Zeitvergleich

Autor Jürgen Drews

Wir kennen uns schon lange, Arthur Fordyce und ich. Kunststück, wir sind ja auch nicht mehr ganz
jung. Arthur ist fünfundsiebzig, das habe ich mir zusammengereimt, als er erwähnte, dass er
den Einmarsch der deutschen Wehrmacht in Paris als Vierzehnjähriger miterlebt habe. Das war
im Sommer 1940. Aber ich greife vor. Arthur und ich kennen uns zwar schon seit geraumer Zeit,
bis vor etwa einem Jahr aber haben wir nie über persönliche Dinge gesprochen. Oder nur ganz
am Rande. Zum Beispiel, wenn einer von uns ein Buch gelesen hatte, davon erzählte und dabei
auch auf eigene Erlebnisse zu sprechen kam. Arthur hat wohl einen Narren an mir gefressen.
Vielleicht erinnere ich ihn an jemanden, der ihm einmal viel bedeutete. Oder liegt es daran, dass
ich Ulrich heiße?
„Ulrich Wegener, a very German name“, hatte Arthur gesagt, als wir uns zum ersten Mal in meinem
Büro trafen, vor Jahren. Ich suchte damals einen Direktor für unsere weltweite Informatik und
hatte ihn gebeten, mir dabei zu helfen. Arthur ist das, was man früher einen Personalberater
nannte und was heute unter dem Namen „Head Hunter“ bekannt ist. Mit anderen Worten: Er
verdient sein Geld damit, dass er im Auftrag von Firmen Kandidaten zur Besetzung wichtiger
Positionen sucht, Leute mit einem ganz bestimmten Wunschprofil. In den zuweilen folgenden
Dialog zwischen der suchenden Firma und dem Kandidaten oder – immer häufiger – auch der
Kandidatin schaltet sich Arthur ebenfalls ein, behutsam, diskret und hilfreich, wie es seine
Art ist. Was ihn von anderen Vertretern seiner Zunft unterscheidet, sind seine Kultiviertheit und
seine Integrität. Nie würde er auf die Idee kommen, eine Person, die er vermittelt hat, später
wieder abzuwerben, um sie ein zweites Mal in eine andere Stelle zu vermitteln. Viele seiner
Kollegen verdienen gern zwei- oder auch dreimal an derselben Person. Arthur hat sich in dieser
Hinsicht strenge Regeln auferlegt. Für ihn sind Angehörige von Firmen, die er zu seinen Kunden
zählt, tabu.
Nach unserem ersten erfolgreichen Projekt, dem in dem Maße wie meine Firma wuchs, noch
viele weitere folgten, trafen wir uns in unregelmäßigen Abständen, um eine „tour d’horizon“ durch
die Industrie, vor allem durch die forschungsintensive Biotech-Industrie mit den dort sprießenden
Talenten zu unternehmen. Ich bin sieben Jahre jünger als Arthur und sehe für mein Alter offenbar
recht jung aus. Jedenfalls höre ich das von Menschen, die kein Interesse daran haben sollten,
mir billige Komplimente zu machen. Vielleicht ist es dieser wirkliche oder scheinbare Alters-
unterschied, der Arthur dazu veranlasst hat, in unserer Freundschaft immer der Gebende zu sein.
Natürlich könnte auch die Tatsache, dass ich sein Kunde bin, ihn veranlasst haben, mich einzu-
laden und meine Gegeneinladungen auf eine sehr freundliche und vertröstende Weise zu
umgehen. Oder mag er mich, weil ich Ulrich heiße und ein Deutscher bin?
Arthur liebt Deutschland, oder sagen wir, er liebt einige der landläufigen Vorstellungen über die
Deutschen und über Deutschland. All diese Vorstellungen sind antik, das heißt, sie beziehen sich
auf eine Zeit, die lange zurückliegt, auf eine Zeit zum Beispiel, in der es in London eine deutsche
Schule gab, die in den besten Kreisen der britischen Gesellschaft so hoch wie die Boarding
Schools von Eaton, Oxford oder Cambridge eingeschätzt wurde. Sein Großvater, so berichtete
Arthur, habe das Niveau dieser Schule, in der auf Deutsch unterrichtet wurde, noch höher veran-
schlagt als das der erwähnten englischen Traditionsschulen. Vielleicht hat der Großvater da
ein wenig übertrieben. Schließlich hatte er diese Schule selbst besucht. Sogar nach dem Ersten
Weltkrieg habe der Großvater Deutsch mit ihm gesprochen und ihm bei Gelegenheit Verse von
Hölderlin oder von Schiller oder auch Szenen aus dem „Faust“ rezitiert. Obwohl Arthur diese
Darbietungen im Einzelnen nicht verstand, habe er jedes Mal unter dem Eindruck gestanden,
dass es sich bei diesen Rezitationen um etwas Besonderes handelte. „Wie ein Blick auf etwas
sehr Kostbares, der uns nur gelegentlich gewährt wurde, wenn mein Großvater sich in
besonders mitteilsamer Stimmung befand“, sagte Arthur. Auch seine Eltern, die ebenfalls
Deutsch sprachen, die Fertigkeiten des Alten aber nicht annähernd erreichten, hätten diese
Einblicke in die Welt des Großvaters sehr zu schätzen gewusst.
Arthurs Kindermädchen, so erzählte er mir einmal ganz beiläufig, nachdem ich in seiner Gegen-
wart ein Telefongespräch auf Deutsch geführt hatte, sei aus Österreich gekommen. Die wenigen
Worte, die er über dieses Kindermädchen verlor, schienen mir anzudeuten, dass er diese junge
Frau aus Krems an der Donau als Kind sehr gern gehabt haben muss. Offenbar verkörperten
alle Deutsch sprechenden Menschen, die durch die Vermittlung seines Großvaters oder seiner
Eltern in Arthurs Leben traten, Eigenschaften, die man früher mit den Deutschen in Verbindung
brachte: Fleiß, Ordnung, Verlässlichkeit, Bescheidenheit und dazu noch Intelligenz, Musikalität
und literarische Bildung. Zu schön, um wahr zu sein, sage ich mir, der gelernt hat, seine Lands-
leute in ganz anderen Zusammenhängen zu sehen. Aber was einem als Kind begegnet, das
hat Bestand und lässt sich auch durch den Beweis des Gegenteils emotional nicht einfach außer
Kraft setzen.
Zu Weihnachten schickt mir Arthur regelmäßig wertvolle Kunstbücher, darunter auch Bücher, die
mir die Werke von Malern nahe bringen sollen, die ich nie besonders beachtet habe: Claudio
Bravo zum Beispiel, der chilenische Hyperrealist, oder Richard Diebenkorn, der zunächst im Stil
und Geist von Matisse malte und über eine wilde, abstrakt-expressionistische Phase schließlich
zu den wunderbar ausgewogenen Farbkompositionen der Park-Avenue-Bilder gelangte.
Arthurs Frau leidet an einer chronischen Krankheit, die ihre Beweglichkeit einschränkt. Mit ihr lebt
er komfortabel, aber zurückgezogen an der so genannten Lower East Side in New York. Sein
Geschäft, das er erst in reifen Jahren aufbaute, geht gut. Kontinuität und Fortbestand sind ihm
wichtig: Mit seinen fünf Kindern und den inzwischen zahlreichen Enkelkindern steht er in enger
und freundlicher Verbindung. Allerdings ist seine Frau wohl der eigentliche Mittelpunkt dieses
sich in die Zukunft spannenden Netzwerks. Aber auch seine Firma soll weiterbestehen, wenn er
einmal ausscheidet. Die neuen jungen Partner, jung, was sage ich – sie sind auch bereits Mitte
Vierzig – wurden nach sorgfältigem Abwägen vor einigen Jahren in die Firma aufgenommen.
Meist treffen wir uns in einem kleinen Restaurant in der 61. Straße in der Nähe der Madison
Avenue. Auch im Sommer letzten Jahres waren wir dort verabredet. Wir mögen dieses Lokal. Es
ist ruhig. Man kann ungestört miteinander plaudern. Man kann sogar, Arthur lieferte dafür neulich
den Beweis, eine geschlagene Stunde miteinander reden, ohne dass jemand kommt und mit
ungeduldiger Freundlichkeit um die Bestellungen bittet. Worüber sprachen wir? Es fing an wie
sonst auch. Wir präsentierten einander die letzten Neuigkeiten, besprachen die Zukunft eines
Kandidaten, der uns beide ein wenig enttäuscht hatte und fragten einander nach unserer der-
zeitigen Lektüre. Arthur war dabei, sich durch eine jüngst erschienene zweibändige
Hitler-Biographie zu kämpfen. Ja, er benutzte diesen Ausdruck, obwohl das Werk in dem Ruf
steht, recht flüssig und unterhaltend geschrieben zu sein. Das „Durchkämpfen“ hatte wohl
damit zu tun, dass viele der Gestalten, die in dem Buch vorkommen und die Arthur bis dahin
geschätzt hatte, sich aus der Sicht des Historikers weniger vorteilhaft, das heißt als weniger klug,
entschlossen und couragiert darstellten, als Arthur es bei Beginn seiner Lektüre erhofft hatte.
Wir sprachen über den Widerstand gegen Hitler und über die merkwürdige Zurückhaltung einiger
hoher Offiziere, die den Diktator zwar verabscheuten, die auch ihrer Bereitschaft Ausdruck gaben,
nach einem Umsturz einer neuen Regierung zur Verfügung zu stehen, die es jedoch ablehnten,
sich in irgendeiner erkennbaren Weise in den Strudel der Verschwörung hineinziehen zu lassen.
Es war diese für ihn enttäuschende Einsicht, die ihm die Lektüre des Buches erschwerte. Er
begegnete in dieser Biographie zu selten Menschen, die er gern gekannt hätte.
Die Strategie des erfolgreichen Feldzugs gegen Frankreich stammte von einem dieser Generäle.
Arthur bewunderte das Genie dieses Generals und war doch enttäuscht von seiner politischen
Halbherzigkeit.
Von diesem Thema war es nur ein kleiner Gedankensprung zum Einmarsch der Wehrmacht in
Paris im Sommer 1940. Hier nun befand sich Arthur wieder auf sicherem Terrain, denn die
Wehrmacht habe sich, so berichtete er aus der Erinnerung eines Vierzehnjährigen, der er damals
war, in diesen ersten Wochen in der fremden Hauptstadt außerordentlich zivil und fair verhalten.
Überraschend für mich kam die Mitteilung, dass seine Eltern mit ihm und zwei jüngeren
Geschwistern dennoch die Stadt verlassen hatten, um in einem Nest in den Pyrenäen Unter-
schlupf zu finden. An einem Ort, der, wie mir klar wurde, von den Deutschen während des
gesamten Krieges nie betreten wurde.
„Von dort“, so berichtete Arthur, „fanden wir über Südfrankreich eine Ausreisemöglichkeit nach
England. Schließlich waren wir Amerikaner, damals also Angehörige eines noch neutralen
Landes.“
„Warum seid ihr nicht gleich in die USA zurückgekehrt?“ fragte ich.
„Mein Vater und mein inzwischen verstorbener Großvater hatten eine so enge Bindung an
England“, erklärte mir Arthur, „sowohl kulturell als auch geschäftlich. Mein Vater wollte seine
Wahlheimat in dieser kritischen Zeit nicht im Stich lassen.“ Er nippte an seinem Weinglas.
„So jedenfalls habe ich mir das zurechtgelegt“, fügte er hinzu.
„Und dann, wie ging es weiter?“ fragte ich.
„Schließlich sind wir doch nach New York zurückgekehrt“, erzählte Arthur, „allerdings ohne
meinen Vater. Der blieb in England. Er war, musst du wissen, ausgebildeter Pilot, hatte auch in
der amerikanischen Luftwaffe gedient und meldete sich freiwillig zur Royal Air Force.“ Ich schwieg.
„Tolle Idee, was?“ Arthur lachte leise in sich hinein. „Ja, er ließ seine Frau mit drei Kindern allein
mit einem englischen Passagierschiff über den Nordatlantik reisen, in dem es von deutschen
U-Booten bereits wimmelte. Er schickte uns zurück nach Neu-England zu seinen Verwandten.
Dort sollten wir den Krieg überstehen, den er inzwischen mit der Royal Air Force gewinnen wollte.“
„Flog er denn tatsächlich Einsätze?“ wollte ich wissen.
Arthur nickte. „Sicher, und wie. Er war zwar schon ein bisschen alt, aber er war ein hervorragend
ausgebildeter Pilot, und die Engländer waren froh über jede Verstärkung.“
„Und wie lange ging das?“ fragte ich.
„Bis 1943“, antwortete Arthur. „Zunächst flog er Einsätze über Frankreich. Dann wurde er Komman-
dant eines Bristol-Blenheim Bombers und warf Bomben auf deutsche Städte. Auf Zivilisten. Auf
die Menschen, die ihm bis zum Krieg neben seinen Landsleuten und den britischen Vettern
besonders nahe standen.“
Ein Anflug von Ironie und Galle war nicht zu überhören. Er nahm wieder einen Schluck Wein. Bei
früheren Begegnungen hatte er nie Wein getrunken, fiel mir ein. Ich grinste und sagte: „In vino
veritas.“
Arthur lächelte zurück. „Was die Lektüre einer Hitler-Biographie nicht alles auslöst.“
„Was steckte denn hinter diesem Eifer, gegen die Deutschen zu kämpfen, – hast du irgendeine
Ahnung?“
Arthur dachte nach. „Ich weiß es nicht“, sagte er dann und sah mich aus seinen klugen grauen
Augen an. Er wirkt wie ein Marabu, dachte ich, wie ein weiser alter Vogel.
„Zurechtgelegt habe ich mir“, fuhr er dann fort, „dass es Enttäuschung war. Hitler war der Wende-
punkt. Dass so etwas in seinem bewunderten Deutschland geschehen konnte, wollte ihm nicht
in den Kopf. Irgendwie muss diese Tatsache ihn zu der Überzeugung gebracht haben, dass von
diesem Hitler, wenn er schon die Deutschen hinter sich bringen konnte, eine furchtbare Gefahr
ausging. Er wusste natürlich von den Judenverfolgungen. Sie waren auch der Grund für unseren
plötzlichen Aufbruch in die Pyrenäen. Jedenfalls glaubte er, sich und seinen Freunden diesen
Kampf schuldig zu sein.“
Arthur wollte nun endlich etwas bestellen. Er winkte dem Kellner, der unsere Wünsche entgegen-
nahm und uns eine neue Flasche Wein brachte.
„1942 flog er Einsätze gegen viele deutsche Städte. Damals musste die Royal Air Force noch
hohe Verluste in Kauf nehmen, wenn sie Angriffe auf das so genannte Reichsgebiet unternahm,
aber er hatte immer Glück, er kam durch.“
Arthur schwieg. Ich hatte den Eindruck, dass er an dieser Stelle aufhören wollte und überlegte,
wie ich ihn zum Weiterreden bewegen könnte.
„Wo warst du eigentlich damals?“ fragte Arthur mich plötzlich unvermittelt.
„In Berlin“, antwortete ich, „oft im Keller oder in Betonbunkern, die man für Kinder gebaut hatte.“
„Warst du auch 1943 in Berlin?“ fragte er mich.
Ich nickte. „Bis zum April 1943. Nachdem unsere Wohnung zerstört war, hatten wir keine dauer-
hafte Bleibe mehr in Berlin. Viele Familien wurden damals irgendwohin aufs Land geschickt.
Evakuiert werden nannte man das.“
„Wann wurde eure Wohnung zerstört?“ fragte mich Arthur.
„In der Nacht vom 16. zum 17. Januar 1943″, gab ich zur Antwort.
Ich merke mir Daten sonst nicht besonders gut, aber diese Nacht habe ich nie vergessen. Spät
am Abend noch Alarm. Wir, meine Schwester und ich, schliefen schon fest, als die Sirenen
losgingen. Nie ist mir das Geweckt werden aus tiefem Schlaf und das Aufstehen so schwer
gefallen wie als Kind. Die ärztlichen Nachtdienste später waren ein Kinderspiel dagegen.
Thermosflaschen mit Brühe oder Tee, ein wenig Brot, Taschenlampen, Decken, Gasmasken,
Verbandszeug. Alles bis auf die jedes Mal in Eile mit schlechten Brühwürfeln zubereitete Bouillon
war ja fix und fertig. Wir taumelten aus den Betten, schlüpften in unsere Trainingsanzüge und
stolperten hinunter in den viel zu flach gebauten Keller zu den fremden Leuten. Wir kannten sie
natürlich alle, aber nachts, wenn wir frisch aus unseren Träumen kamen, war uns alles fremd.
Dann das Feuer der Flak. Die ersten fernen Bombeneinschläge. Meine Mutter saß an der Wand,
in jedem Arm eines ihrer Kinder, und achtete darauf, dass unsere Köpfe, wenn die Fundamente
wackelten, nicht gegen die Mauern schlugen. Es wurde von Woche zu Woche schlimmer, fanden
die noch verbliebenen Männer. Mein Vater war irgendwo in Deutschland unterwegs, bei der
Feldgendarmerie, so hieß das wohl, jedenfalls bei einer Truppe, die abgeschossene Flugzeuge
finden sollte und mit dem Fallschirm abgesprungene alliierte Flieger gefangen nehmen musste.
Es waren nervtötende Nächte. Am späten Abend dieses 16. Januar – oder waren es die frühen
Morgenstunden des 17. (?) – fiel ganz in der Nähe unseres Wohnblocks eine Luftmine, riss einen
nur wenige Meter tiefen, aber zwanzig oder dreißig Meter breiten Krater in eine Gärtnerei und
zerstörte alle Häuser, die das Gelände der Gärtnerei wie ein Hufeisen umstanden. Wir nahmen
nur den lauten Knall und den Luftdruck wahr, der die kleine Flamme des im Keller brennenden
Kanonenofens meterhoch empor jagte und uns gegen die Wand schleuderte. Ein paar Beulen
und Prellungen war alles, was wir davontrugen. Im Nebenhaus kamen ein paar Menschen zu
Schaden, einer meiner Schulfreunde, ein Zehnjähriger wie ich damals, wurde getötet.
Ich schilderte diese Ereignisse in aller Kürze, weil ich Arthurs Geschichte zu Ende hören wollte.
Während ich die Eindrücke von der Bombennacht wiedergab, fiel mir etwas ein: Die Royal Air
Force hatte in jener Nacht zum ersten Mal einen neuen Bombentyp mit besonderer Spreng-
wirkung eingesetzt. Das hatte ich irgendwo gelesen, viel später, als man auf beiden Seiten die
Ereignisse des Krieges in allen Einzelheiten analysierte.
That’s right“, sagte Arthur und nickte. „Mein Vater gehörte zu den Piloten, die diese Bomben als
Erste abwarfen. Die ersten Minenbomben dieser Art fielen auf Berlin“, ergänzte er. „Du hast
damals also so etwas wie eine Première erlebt.“
Was sollte ich dazu sagen? Das alles lag so lange zurück.
Wieder entstand eine Pause.
„Es war übrigens sein letzter Einsatz“, sagte Arthur, „seine Maschine wurde bei Berlin abge-
schossen.“
„Und?“ fragte ich Arthur.
„Zunächst erfuhren wir gar nichts“, sagte Arthur. „Später erhielten wir dann die Nachricht, dass er
in einem deutschen Lazarett für Kriegsgefangene gestorben sei. Er muss bei dem Abschuss
ziemlich schwer verwundet worden sein. Nach dem Krieg wurde die Geschichte im Einzelnen
bestätigt. Danach wurde er in der Nähe von Hannover aufgegriffen und in ein deutsches Lazarett
gebracht. Dort starb er. Man begrub ihn irgendwo. Später, nach dem Krieg, wurde sein Sarg auf
einen Soldatenfriedhof umgebettet. Dort befindet sich das Grab heute noch.“
„Hast du es besucht?“
Arthur nickte. „Ja, es ist ein hübscher Friedhof, das Grab ist gut gepflegt. Irgendwo im Rheinland“,
sagte er. „Ich müsste nachsehen, wie der Ort heißt.“ Dann lachte er wieder leise in sich hinein.
„Weißt du, ich habe oft gedacht, dieses Ende passt zu ihm. Jetzt liegt er auf dem Gebiet des
Landes, das er und sein Vater so bewunderten und das er dennoch bekämpfen musste.“
Es war spät geworden. Jedenfalls kam es mir so vor. Ich zog meine Uhr aus der Tasche, ein
Geschenk meines Vaters, und fand meine Vermutung bestätigt.
„Gehen wir?“ schlug ich vor, und Arthur nickte. Ich machte keine Anstalten zu bezahlen. In diesem
Punkt würde Arthur doch wieder die Oberhand behalten.
„Übrigens, diese Uhr“, sagte ich und reichte Arthur meine schwere altmodische Taschenuhr,
die an einer Kette hing, über den Tisch. „Auf der Rückseite trägt sie eine etwas verschnörkelte
Gravur. Die hat mein Vater aus dem Krieg mitgebracht. Angeblich stammt sie von einem
englischen Flieger.“
Arthur betrachtete die Uhr aufmerksam. Er wog sie einige Male in der rechten Hand und klappte
sie auf, schloss sie wieder und gab sie mir zurück.
„Seltsam“, sagte er.
„Warum?“
Arthur winkte ab. „Nur so“, meinte er. Und nachdem er die Rechnung, die uns der Kellner
präsentierte, unterschrieben hatte, fügte er noch hinzu: „Seltsam, welche Wege solche Gegen-
stände nehmen können.“
Und auf meinen fragenden Blick hin fügte er fast entschuldigend hinzu: „Ich meine nur.“

2

Einige Tage nach dem Treffen mit Arthur bekam ich einen Anruf von meiner Schwester Gisela.
Sie ist immer noch damit beschäftigt, den Nachlass meiner Mutter zu ordnen, die vor einem Jahr
starb und uns ein großes Haus hinterließ, in dem sie zunächst mit meinem Vater und dann
nach dessen Ende allein gelebt hatte. Gisela hatte sich, da sie selbst berufstätig ist und einen
Mann zu versorgen hat, nur langsam durch die verschiedenen Räume des Hauses gearbeitet.
Jetzt teilte sie mir mit, dass sie in einem der Speicher einen Karton mit alten Briefen entdeckt
habe. Es handelte sich, sagte Gisela, fast ausschließlich um Briefe, die sich unsere Eltern
während des Krieges und während der Gefangenschaft, in der sich mein Vater nach Kriegsende
für einige Jahre befand, geschrieben hatten. „Die Briefe sind aus heutiger Sicht recht belanglos“,
sagte Gisela. „Meist ist darin von Kriegsnöten, von Nahrungsbeschaffung oder der Suche nach
Unterkünften die Rede. Mich interessiert das nicht mehr, aber bevor ich diese alten Sachen
vernichte, wollte ich dich fragen, ob du sie noch einmal ansehen willst.“
Gisela neigte immer zu einer gewissen Nüchternheit. Was ihr nicht von unmittelbarem Nutzen
erscheint, wirft sie weg oder verschenkt es. Immerhin hatte sie an die Möglichkeit gedacht, dass
dieser Briefwechsel mir etwas bedeuten könnte.
„Schick mir diese Briefe doch“, schlug ich vor. „Mit Luftpost“, fügte ich hinzu, weil ich nicht wochen-
lang darauf warten wollte. Gisela schwieg. Ich nahm an, dass sie mir gleich vorrechnen würde,
dass eine solche Sendung sehr teuer werden könnte. Diesem Einwand wollte ich zuvorkommen
und sagte deshalb: „Wenn’s teuer wird, schick es auf meine Kosten.“
Sie willigte ein, und wenige Tage später konnte ich ein Päckchen mit der Korrespondenz meiner
Eltern aus den Kriegs- und Nachkriegsjahren in Empfang nehmen.
Ich öffnete das kleine Paket mit gemischten Gefühlen. Einerseits war ich neugierig. Ich wollte
gern erfahren, ob diese Briefe etwas darüber aussagen würden, wie Inge und Werner Wegener,
unsere Eltern, diese Zeit, ihre Not und die Trennung voneinander erlebt hatten. Andererseits
fühlte ich mich wie ein Eindringling. Dies waren Briefe, die Eheleute einander geschrieben hatten.
Gut, es waren meine Eltern, sie waren beide tot. Aber gaben mir diese Umstände das Recht, in
den Raum einzudringen, der nur den beiden gehört hatte? Vielleicht hatte Gisela Recht. Indem
man die Briefe vernichtete, würde man diese Sphäre, in der die beiden vielleicht andere
Menschen gewesen waren, als die, die wir als unsere Eltern kannten, respektieren. Aber diese
Briefe waren, das spürte ich sofort, als ich sie in die Hand nahm und die vertrauten Schriftzüge
auf dem nun schon leicht vergilbten Papier sah, auch Zeugnisse unserer Kindheit und Erinne-
rungen an zwei Menschen, die ich sehr geliebt hatte und an die ich auch heute noch fast täglich
und meistens mit freundlichen Gefühlen denke. Also begann ich, die Briefe zu lesen, zögernd
zunächst, ein wenig scheu, immer bereit wegzusehen, etwas zu überspringen, wenn das
Mitgeteilte in Bereiche vordringen sollte, die ich auch heute nicht verletzen wollte. Aber meine
Bedenken erwiesen sich als unbegründet. Meine Eltern hatte sich recht nüchterne Lageberichte
geschrieben. Persönliches blieb fast ganz ausgeklammert. Der Ton der Briefe war freundlich,
aber auch lakonisch. Sie mussten sich möglichst umfassend über ihre jeweilige Lage, über ihre
Überlebenschancen und ihre dringendsten Bedürfnisse unterrichten. Telefongespräche konnten
nur selten und erst nach oft stundenlangen Voranmeldungen geführt werden, wenn sie
überhaupt zu Stande kamen. Briefe waren das einzige Mittel der Kommunikation. Ob mein Vater
das Päckchen mit den von Gisela und ihr selbst gestrickten Socken, den frischen Rasierklingen
und dem Speck erhalten habe, fragte meine Mutter, und mein Vater insistierte, dass einer seiner
Briefe, in dem er über seine bevorstehende Versetzung an die Ostfront berichtete, verloren
gegangen sein müsse. Zeugnisse eines auf Verbleib und Überleben ausgerichteten Daseins.
Ich fand einen Brief vom 25. Januar 1943. Das war eine Woche nach dem Bombenangriff, bei
dem unser Wohnhaus zerstört worden war. Mein Vater schrieb aus einer Garnison in
Niedersachsen.
Liebe Inge!
Gott sei Dank ist Euch nichts passiert. Sofort nach Erhalt Deiner Nachricht habe ich meinen
Kompaniechef um einen kurzen Urlaub gebeten, um Euch bei der Übersiedlung in eine neue
Wohnung zu helfen. Er hat mir diesen Drei-Tage- Urlaub auch sofort gewähren wollen. Dann
trat auf Einspruch der Regimentsleitung aber doch eine Verzögerung ein. So wie es jetzt
aussieht, werde ich erst nächste Woche freikommen. Bis dahin musst Du alleine fertig werden.
Am wohlsten wäre mir, wenn Ihr Berlin vorerst verlassen würdet, die Angriffe werden immer
heftiger und häufiger. Man munkelt, die Engländer hätten beim letzten großen Angriff neue
Minenbomben eingesetzt. Die Schäden sollen jedenfalls erheblich sein.
Am 17. Januar um drei Uhr früh nahmen wir die Besatzung eines abgeschossenen englischen
Bombers fest. Sie hatten sich mit Fallschirmen gerettet. Der Kapitän war durch Schüsse am
Bein schwer verletzt worden, offenbar hatte er auch noch innere Verletzungen. Ich rief Sanitäter,
die sich um ihn kümmerten. Er tat mir Leid. Offenbar hatte er große Schmerzen. Für einen Piloten
schien er mir schon recht alt zu sein – vierzig schätzungsweise? Er war mir sofort sympathisch,
obwohl ich mir sagen musste, dass er und seine Leute noch vor wenigen Stunden Bomben auf
unschuldige Zivilisten abgeworfen hatten. Aber müssen wir Soldaten in diesem Krieg nicht alle
schreckliche Dinge tun? Der Umgang mit den englischen Gefangenen ist immer noch einiger-
maßen fair. Der leitende Sanitäter und ich kümmerten sich um den Piloten. Er wurde sofort zur
Behandlung in ein Lazarett gebracht. Mit Billigung meines Kompaniechefs durfte ich ihn dort
besuchen. Seine Bewacher ließen mich zu ihm, weil sie hofften, dass ich ihm Angaben von
militärischem Wert entlocken könnte.. Daraus wurde nichts. Wir sahen uns nur zweimal für einige
Minuten. Bei meinem zweiten Besuch schien es ihm ein wenig besser zu gehen. Er lächelte mir
zu aus seinem hageren unrasierten Gesicht und sagte in sehr gutem Deutsch, dass er etwas
für mich hätte. Dann zog er eine Uhr aus seinem Nachttisch und hielt sie mir entgegen.
„Hier, Leutnant“, sagte er, „nehmen Sie die als Talisman. Mir hat sie nicht allzu viel geholfen, – bis
auf den Umstand, dass ich noch lebe.“ Er ließ die Uhr an ihrer Kette hin- und herschwingen, wie
ein Pendel.
„Vielleicht hilft sie Ihnen, diesen Krieg zu überstehen. Wenn ja, dann geben Sie mir die Uhr
wieder – im Frieden. Sie haben mir sehr geholfen.“ Dann sank er zurück in sein Kissen, nachdem
er mir die Uhr entgegengestreckt hatte. Ich nahm sie.
„Ich heiße Anthony Fordyce und bin Captain“, sagte er zum Abschied. „Sie werden mich finden.“
Er war erschöpft, das sah ich ihm an. „Also dann“, sagte ich und drückte ihm die Hand, die auf
der Bettdecke lag, „bis nach dem Krieg.“
Er winkte mir zu und lächelte. Dieses Lächeln war, als ob wir gemeinsam etwas ausgeheckt
hätten, wovon niemand etwas wissen durfte. Natürlich befand sich ein Wachtposten vor dem
Zimmer, der bei offener Tür alles mitbekommen hatte. Ein junger Offiziersanwärter der Luftwaffe.
Ich wusste, er würde die Sache vergessen. Als ich Anthony Fordyce verließ, salutierte er, als
sei ich ein Generalfeldmarschall. Vielleicht wollte er mir damit etwas sagen. Wie dem auch sei!
Vielleicht geschieht ja ein Wunder und wir überleben diesen Wahnsinn. Dann werde ich Anthony
Fordyce seine Uhr wiedergeben. Mit vielem Dank für den gewährten Schutz. Ich erzähle Dir das
im Einzelnen, wenn ich nächste Woche komme, um Euch zu helfen.
Bis dahin, meine Inge, mach’s gut und grüß mir Ulrich und Gisela.
Dein Werner

3

Es gibt Augenblicke, in denen man neben sich steht. Ich stehe jetzt neben diesem Ulrich Wegener,
der jetzt diese vergilbten, mit einer inzwischen nachgedunkelten Tinte beschriebenen Blätter
sinken lässt und vor sich hin starrt. Dieser Mann hat gerade eine Anzahl von Briefen durchge-
sehen, Briefe, die ihn eigentlich nichts angehen, weil sie von seinen Eltern stammen und nicht
an ihn gerichtet sind. Briefe aus einer Zeit, in der dieser Ulrich und die ein wenig ältere Schwester
Gisela, die ihm diese Briefe schickte, noch Kinder waren.
Aber solche Augenblicke bleiben Augenblicke. Ulrich Wegener, das bin ja ich, Gisela ist meine
Schwester. Ich hatte immer ein schlechtes Gewissen, weil ich mich nie um meine Eltern ge-
kümmert habe.
„Ich bin weit weg, und Gisela ist ja in der Nähe“, so habe ich das rationalisiert. Auch die Sichtung
des Nachlasses habe ich ausschließlich Gisela überlassen. Jetzt holt mich dieser Brief wieder
zurück in die trüben Tage nach dem Bombenangriff im Januar 1943. Wir hatten nachts nach dem
Angriff noch Unterschlupf bei meinem Großvater gefunden, der in der Nähe wohnte. Dann der
Morgen des 17., an dem wir unseren Wohnblock wiedersahen. Die leeren Fensterhöhlen, die
verkohlten Strünke von hohen Pappeln, die nachts lichterloh gebrannt hatten.
Ich erinnere mich an den Besuch von bramarbasierenden braun- oder grau-uniformierten Bonzen.
„Wird Ihnen alles ersetzt“, sagten sie zu meiner Mutter, die blass und übernächtigt Formulare
ausfüllte. Alle Schäden waren einzeln aufzuführen. Es wurde auch alles ersetzt. Jedoch verbrannte
alles Wiederhergestellte und Ersetzte wenige Monate später in einer Turnhalle.
Mein Vater kam einige Tage nach dem Angriff. Wir wohnten immer noch in der kleinen Wohnung
meines Großvaters. Er zeigte mir die Uhr und erzählte, sie stamme von einem englischen Piloten,
von einem Feind, der für ihn nun kein Feind mehr sei. Nach dem Krieg würden sie sich wieder
treffen. Dann verfrachtete er uns in einen Zug, der uns zu Verwandten nach Thüringen brachte.
Wir blieben dort bis zum Kriegsende. Ich vergaß die Uhr und vergaß sogar meinen Vater, der
Soldat blieb und erst viele Jahre nach Kriegsende aus russischer Kriegsgefangenschaft heim-
kehrte. Das war Anfang der fünfziger Jahre. Wir wohnten schon wieder in Berlin.
Erst als mein Vater starb, viele Jahre später, bekam ich die Uhr wieder zu Gesicht. Sie ging noch.
Man musste sie nur aufziehen. Ein Uhrmacher, dem ich sie zur Säuberung brachte, sagte etwas
sehr Anerkennendes darüber. „Gediegene Arbeit, die können Sie noch an Ihre Enkel vererben.“
Und da es ein so hübsches altmodisches Stück war, das sich auf vornehme und ein wenig
kapriziöse Weise von den Armbanduhren unterschied, die Hinz und Kunz trugen, wurde es meine
Uhr. Jetzt verstand ich, dass es nicht meine Uhr war. Sie gehörte Arthur. Warum hatte er nichts
gesagt, als wir uns neulich im Restaurant gegenübersaßen? Nur „seltsam“ und etwas über die
Wege, die Gegenstände nehmen können. Hatte Arthur die Uhr erkannt? Mein erster Impuls war,
ihn zu fragen, aber so etwas macht man nicht am Telefon. Also wartete ich. Irgendwann in den
nächsten Wochen würden wir uns ja wiedersehen.
4

Oft in den letzten Wochen habe ich die Uhr genau betrachtet: Das silberne Gehäuse, den Deckel,
den man über das Zifferblatt klappen kann und der sich mit einem leise schnappenden Geräusch
schließt, das Zifferblatt und die Rückseite mit dem Monogramm. Ich hatte immer noch Mühe, in
den verschlungenen Lettern die Buchstaben „A“ und „F“ zu erkennen. Waren es nicht drei
ineinander verwobene Lettern?
Während ich auf Arthur wartete, wieder in unserem Lokal in der 61. Straße, versuchte ich noch
einmal, die Inschrift zu entziffern: „A.E.F“? Ja, das könnte stimmen.
Arthur kam heiter und freundlich wie immer. Er fing an, über sein Geschäft zu sprechen und mich
nach einigen Kandidaten zu fragen. Ich antwortete unkonzentriert und ein wenig lustlos, wie
jemand, der endlich zur Sache kommen möchte. Dann entstand eine Pause. Ich zog die Uhr aus
der Tasche und legte sie auf den Tisch.
„Arthur, was bedeutet die Inschrift auf der Rückseite?“ fragte ich. „Es sieht aus wie A.E.F. Anthony
Fordyce? Aber der mittlere Buchstabe?“
„Anthony Elton Fordyce“, antwortete Arthur und lächelte. „Elton war der mittlere Name meines
Vaters, der Mädchenname unserer Großmutter. So etwas tat man damals gern in neu-englischen
Familien.“
„Es ist deine Uhr“, sagte ich und erzählte ihm von dem Brief.
„Dein Vater konnte die Uhr nach dem Krieg nicht mehr zurücknehmen“, sagte ich, „und mein Vater
ist auch schon seit vielen Jahren tot. Aber die Söhne können das ja nachholen.“ Ich schob Arthur
die Uhr über den Tisch.
Arthur lächelte. Er schwieg eine Weile, dann sagte er: „Isn’t that something?“
Ich nickte.
„Ja“, sagte Arthur schließlich, „es ist die Uhr meines Vaters, und ich nehme sie gern wieder an
mich. Ich kann sogar beweisen, dass es seine Uhr ist“, lächelte er, „denn einen strengen Beweis
hast du ja bisher nicht geliefert.“ Dabei zog er seine Uhr aus der Tasche und legte sie neben die
meine, die ich ihm eben über den Tisch geschoben hatte. Die Uhren waren identisch. Arthur
drehte sie um. Nein, doch nicht ganz identisch, denn in der Gravur seiner Uhr fehlte der mittlere
Buchstabe, das „E“. Die Buchstaben selbst hatten die gleiche verschnörkelte und ineinander
verschlungene Gestalt. Aber es waren eben nur zwei Lettern: „A“ und „F.“ Ich sah Arthur fragend
an.
„Diese Uhr“, sagte er dann und nahm seine Uhr in die Hand, „hat mein Vater mir geschenkt. ,A.F.‘
bedeuten Arthur Fordyce. Den mittleren Namen Elton trage ich nicht. Sonst ist es die gleiche Uhr.
Mein Vater schenkte sie mir zu meinem vierzehnten Geburtstag – in Paris übrigens. Kurz bevor
die Stadt besetzt wurde.“ Dann grinste er ein wenig verlegen. „Was soll ich mit zwei gleichen
Uhren?“ fragte er mich.
Ich wollte zu einer umständlichen Erläuterung ansetzen, aber Arthur unterbrach mich. „Weißt du
was?“ sagte er leichthin. „Diese hier habe ich lange genug getragen, now it’s your turn.“
Ich sah ihn an, fragend vermutlich, denn er nickte, als sei er ganz sicher. „Die Uhr meines Vaters,
die bei ihm war, als er abstürzte, nehme ich“, sagte er. Als ich zögerte, schob er mir seine Uhr
über das Tischtuch zu. Er betrachtete die Uhr seines Vaters sehr aufmerksam, bevor er sie in die
Hand nahm.
„Bevor wir tauschen, noch eines“, sagte er mit bedeutungsvoller Stimme. „Zeitvergleich.“
Man konnte diese Uhren auf die Sekunde genau einstellen. Das taten wir mit einer Gewissen-
haftigkeit, als hätten wir eine militärische Aktion durchzuführen.
„Einundzwanzig Uhr und dreißig Minuten“, sagte Arthur, und ich wiederholte seine Zeitangabe.
Dann steckten wir die Uhren ein. Arthur ließ die Seine in einer Uhrentasche verschwinden,
die in seine Weste eingenäht war, ich befestigte meine am Gürtel.
Und das war’s. Danach haben wir eigentlich nie wieder über diese Angelegenheit gesprochen.
Nur gelegentlich, wenn wir uns zum Geburtstag gratulieren oder uns aus einem geschäftlichen
Anlass über den Weg laufen, fragt Arthur, ob unsere Uhren noch synchron gehen. „Zeitvergleich“,
sagt er dann, und anschließend korrigieren wir die kleinen Abweichungen, die inzwischen
eingetreten sind.

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