Ein Tag im Herbst

Autor Jürgen Drews

Ludwig Grimm träumte oder war sein Traum schon zu Ende? Befand er sich bereits in
jener schmalen Zone zwischen Wachen und Träumen, die man als Halbschlaf
bezeichnet? Er wusste plötzlich, dass Jutta wach lag. Und wenn sie wach lag, dann
dauerte es nur Sekunden, allerhöchstens eine Minute, bis er begriffen hatte,
ob sie nur eben die Oberfläche des Wachseins berührte, um gleich darauf wieder
hinabzusinken in eine still durchatmete Ruhe, oder ob ihre Gedanken angefangen
hatten zu kreisen. Gab es etwas, das ihr die Rückkehr in den Schlaf verwehrte?
„Du kannst nicht schlafen?“, fragte er ins Dunkel und bekam zunächst keine Antwort.
In seinem Traum, der ihn neuerlich umfing, wusste er, dass er seine Frage falsch
gestellt hatte.
„Warum kannst du nicht schlafen?“, fragte er. Die Antwort bestand aus einem einzigen
Wort: „Szygusch“, sagte Jutta. Nur dieses Wort. Sie sprach diesen Namen ohne jede
Betonung aus, so, als benenne sie etwas Gleichgültiges. Sie hätte auch „Tag“ sagen
können oder „Nacht“, „Himmel“ oder „Erde“, „Sommer“ oder „Winter“. Aber sie sagte:
„Szygusch“. Immer, wenn Grimm diesen Traum hatte, sagte Jutta: „Szygusch“ und
fügte hinzu: „Darum, verstehst du?“
Natürlich verstand Grimm, was seine Frau sagte. Selbst im Traum verstand er, worauf
sie hinauswollte. Etwas in seiner Magengrube krampfte sich zusammen, sein Herz
schlug schneller, aber er wurde nicht wach. Oder doch? Erwachte Ludwig Grimm, weil
sein Herz heftig gegen seine Rippen schlug und weil sich etwas in seinem Inneren
zusammenzog?
„Wo?“, fragte er.
„In der Stadt“, antwortete Jutta. Manchmal bezeichnete sie sogar den Ort, an dem sie
Szygusch begegnet war:
„In der Fußgängerzone“ oder „in der Osterstraße.“ Dann fügte sie hinzu: „Er ist hier,
verstehst du? Sie haben ihn frei gelassen.“
Manchmal endete der Traum hier, aber heute hatte er noch eine Fortsetzung. Wieder
hörte er Juttas Stimme: „Ich habe ihn gesehen, er hat mich gegrüßt“, und dann stockte
Juttas Stimme. „Es war … es war … unerträglich!“ schrie ihre Stimme plötzlich neben
ihm. „Unerträglich!“ Und von diesem Schrei wurde er wach. Einen Augenblick noch lag
er da wie betäubt, dann Stück für Stück ordneten sich die Gegenstände in seinem
Blickfeld zu Bildern, die er deuten konnte. Er lag in seinem Bett auf der rechten Seite
und blickte auf die zugezogenen Vorhänge. Das Bett rechts neben ihm war mit einem
hellen Überwurf abgedeckt. Durch den Spalt zwischen den Vorhängen drang
morgendliches Licht. Aus einem der Nachbargärten hörte er erregte Stimmen. Eine Tür
schlug zu. Dann herrschte wieder Ruhe.
Grimm richtete sich auf und blieb einen Moment lang auf der Bettkante sitzen. Dann ging
er zum Fenster, zog die Vorhänge zur Seite und blinzelte in den Tag, der leuchtend vor
den Fenstern stand. Einen Augenblick lang verharrte sein Blick auf seinem eigenen
zerwühlten Bett und auf dem hellen, rosa und blau gebänderten Überwurf des unberührten
Lagers an seiner Seite. Seine Augen wanderten durch das Zimmer, blieben an der
mit lindgrünem Samt bezogenen Sitzecke, der Stehlampe und dem Fernsehgerät hängen
und streiften den Kleiderschrank und die Bücherwand.
Die nebeneinander stehenden oder übereinander gestapelten Buchrücken ergaben jetzt
im Tageslicht eine unabsichtlich zusammengefügte Fläche, die dennoch wie eine
bewusste Komposition wirkte. Das Zimmer lag unter dem Dach. Die Zimmerdecke,
ursprünglich in dunklem Holz gehalten, stieg von den Kopfenden der Betten, wo sie gerade
mannshoch war, zur Südseite des Zimmers, an der das Bücherregal stand, stetig an.
Später hatten sie die Balken weiß streichen und die Zwischenräume mit Gipsspanplatten
auskleiden lassen. Etwas von der Gliederung des Daches war erhalten geblieben, aber
der Raum wirkte jetzt höher und heller.
Die vertrauten Bilder beruhigten ihn. Nichts, gar nichts hatte er in diesem Zimmer
verändert, seitdem Jutta nicht mehr bei ihm war: Noch immer bedeckten die bunten
Teppiche aus dem Kaukasus, die sie zusammen gekauft hatten, die breiten Holzdielen
des Zimmers. Noch immer lagen auf dem flachen Holztisch vor der Sitzecke Bücher
und Zeitschriften in zufälliger Ordnung oder Unordnung, und natürlich war Juttas Bett in
diesem Zimmer geblieben. Im übrigen Haus hatte Grimm in den letzten Jahren
einiges geändert, aber dieser Raum, der ihr Refugium, ihr gemeinsames Schlaf-
zimmer gewesen war, musste in dem Zustand bleiben, in dem es sich befunden hatte,
als Jutta starb.
Ludwig Grimm ging in das angrenzende Bad, um zu duschen. Er hörte die Hunde im
Untergeschoss rumoren, in dem sie während der Nacht gehalten wurden. Sie quiemten
ungeduldig und drangen auf ihren Morgenspaziergang. Ja, er hatte lange geschlafen.
Als er aus dem Bad kam, rief er etwas ins Treppenhaus hinunter:
„Ich komme gleich, gebt Ruhe!“ Dann beeilte er sich mit dem Anziehen. Aus der offenen
Garderobe im Treppenhaus nahm er eine abgeschabte Lederjacke, die er jetzt, im
beginnenden Herbst, gern trug. Bevor er die hellen Holztreppen herabstieg, blickte er
noch einmal zurück auf seinen Nachttisch. Die angerissene Packung mit Schlaftabletten,
die Stanniolfetzen, die dort herumlagen, sollte er besser entfernen. Frau Wehmeyer,
seine Haushälterin, musste das nicht unbedingt sehen, wenn sie später am Tag käme,
um das Haus aufzuräumen. Danach stieg er die Treppe hinunter. Die beiden
Rauhaardackel kläfften ungeduldig, als er die Tür zu ihrem Raum öffnete, und rannten
zur Haustür. Sie ließen ihn nun nicht mehr aus den Augen, bis sie hinausspringen
konnten in den Garten und sich durch die Tür zwängten, sobald ihr Herr sie auch nur um
einen Spalt geöffnet hatte. Das Grimmsche Haus gehörte zu einer Reihe von Ein-
familienhäusern, die sich etwas oberhalb der Stadt an der Grenze zwischen Wohngebiet
und einer großen, landwirtschaftlich genutzten Fläche entlangzog. Hier gab es schmale
asphaltierte Straßen, auf denen die Bauern ihre Traktoren und Maschinen bewegten,
und zwischendurch Schotterwege, die durch Felder und kleine Gehölze liefen.
Der Weg, den Ludwig Grimm jetzt einschlug, führte ihn sanft bergan durch abgeerntete
Getreidefelder und vorbei an Äckern, auf denen die Wintersaat schon anfing
auszukeimen, bis zu einer kleinen Anhöhe, die ihm einen freien Blick über die zu beiden
Seiten der Weser liegende Stadt und zu den Höhenzügen im Westen gewährte. Hier
stand eine Bank, auf der er gern ein paar Minuten saß, während seine beiden Hunde
erschnüffelten, wer hier oben während der vergangenen Nacht vorbeigekommen war
und was sich abgespielt hatte. Die Sonne hatte das Holz der Bank schon erwärmt, und
das dichte Gebüsch im Rücken der Bank schirmte den Platz gegen gelegentliche
kühle Luftzüge ab, die von Osten kamen. Von hier aus hatte Grimm einen freien Blick
über die Stadt, die während der letzten Jahrzehnte seine Heimat geworden war. Als
leitender Internist an der Städtischen Klinik hatte er hier seine berufliche Erfüllung
gefunden. Hier hatte er ein Haus gebaut, – er konnte den hellen, von Bäumen
umstandenen Giebel von seinem Platz aus sehen. Hier hatte er Jutta geheiratet,
Thomas war hier geboren worden. Jutta und er hatten Freunde gefunden. Viele
Freunde, wie es in einer kleinen Stadt so zugeht. Es gab ärztliche Kollegen, Rechts-
anwälte, mittelständische Unternehmer, einige höhere Beamte: Zusammen bildeten
sie eine Gruppe, die sich zu früheren Zeiten vielleicht als die Honoratioren der
Stadt verstanden hätten. Heute lag ihnen so etwas fern. Der hiesige Golfclub, dem
Grimm und fast alle seine Freunde angehörten, bot ihnen den alltäglichen und
zwanglosen Rahmen für ungeplante Zusammenkünfte, deren Verlauf Ludwig Grimm
als angenehmer empfand als die meistens auf universitäre und fachliche Themen
beschränkten Geselligkeiten, die er aus Heidelberg kannte. Die Offenheit und
Zwanglosigkeit, vor allem die Abwesenheit von überbordendem Ehrgeiz, die Unter-
schiedlichkeit der Themen, über die seine Bekannten und Freunde sich auslassen
konnten, hatten Ludwig Grimm diesen Ort und seine im Ganzen doch unprätentiöse
Gesellschaft lieb gewinnen lassen.
Der Umzug hierher war eine gute Entscheidung gewesen. Hamburg, Berlin und das
nahe Hannover boten kulturelle, vor allem theatralische und musikalische Anreize.
Alles schien im Lot zu sein. Jutta betätigte sich als Maklerin, er hatte seine Klinik.
Thomas besuchte eine ordentliche Schule und hätte wohl auch Medizin studiert, wie
sein Vater. Zunächst – so war es geplant – in Hannover und später im Ausland, in der
Schweiz oder in den USA.
„Szygusch“, der Name fiel ihm ein, sein Traum, der ihn immer wieder alle paar Wochen
oder Monate heimsuchte. Meistens dann, wenn er spät ins Bett gegangen und gegen
morgen noch eine kleine Dosis eines Medikaments eingenommen hatte, die ihm noch
zwei oder drei Stunden ununterbrochenen Schlafes ermöglichen sollte. In der vergan-
genen Nacht hatte er fast bis vier Uhr früh wach gelegen und gelesen. Dann hatte er
sein Mittel eingenommen und sich danach in die Nacht vor acht Jahren zurückversetzt
gefühlt, als Jutta ihm von ihrer Begegnung mit Horst Szygusch berichtete.

Am Morgen nach der kurzen nächtlichen Unterhaltung war er aufgestanden, hatte einen
Waldlauf unternommen, sich geduscht und sich in den Wintergarten gesetzt, in dem
Jutta und er frühstückten, wenn sie Zeit hatten. Diese knappe Stunde am frühen Morgen,
in der sie niemand störte, in der sie von sich erzählten, von ihren Träumen und deren
möglichen Ursachen, von ihren Hoffnungen, von Büchern, die sie gelesen hatten oder
von Gesprächen mit Freunden, von den besonderen Dingen, die sie an dem betreffenden
Tag unternehmen wollten oder mussten, bedeutete ihnen sehr viel.
„Diese Stunde ist fast schon der ganze Tag.“ So hatte Jutta das ausgedrückt. An diesem
Morgen aber war alles anders. Schon während seines Waldlaufs dachte Grimm immer
wieder an Szygusch, an den vierschrötigen blonden Burschen mit dem etwas groben,
ausdruckslosen Gesicht, in dem nur die blauen Augen auffielen, die sich verdunkeln
konnten, wenn er nicht verstand, was ihm gesagt wurde oder was um ihn herum vorging,
die jedoch in Augenblicken des Zorns oder einer anderen starken Emotion aufleuchten
konnten wie kalte Feuer. Horst Szygusch, der Sohn einer allein stehenden Frau, die sich
mit Gelegenheitsarbeiten durchbrachte und die weggezogen war, nachdem die Sache
mit Thomas passiert war, damals im Frühjahr 1991. Zweiunddreißig Jahre wäre Thomas
heute. Längst hätte er sein Studium beendet, hätte sich irgendwo niedergelassen, eine
Familie gegründet. Er, Ludwig Grimm, wäre heute Großvater – vielleicht. Aber wer weiß,
was geschehen wäre, wenn diese Tragödie sich nicht ereignet hätte. Es ist nutzlos, sich
Dinge vorzustellen, die auch hätten sein können, Leben, die nicht gelebt wurden, weil
etwas dazwischenkam, etwas völlig Unerwartetes. Und wer wäre er selbst, Ludwig
Grimm, heute, wenn Thomas weitergelebt hätte. Wäre dann auch Jutta noch am Leben?
Wieder ertappte sich Grimm bei Spekulationen, die doch nicht weiterhalfen.
Die Hunde hatten sich müde getobt, lagen zu seinen Füßen und schienen die milde
Herbstsonne genauso zu genießen wie er selbst. Boris und Ludmilla. Jutta hatte sie als
Welpen ins Haus gebracht vor zehn Jahren. Sie meinte, die kleinen Kerle würden ihnen
beiden gut tun. Und da die Welpen zu so ausnehmend hübschen Dackeln heranwuchsen,
folgte Jutta der Anregung einiger Züchter in der Umgebung und ließ Boris und Ludmilla
freien Lauf. Die nähere und sogar die weitere Nachbarschaft hatte sie mit jungen Hunden
versorgt. Selbst der Förster oben an der alten Schmiede hatte einen genommen.
Genug jetzt, dachte Grimm und stand auf. Die Dackel liefen voraus, gut gelaunt, denn sie
wussten, dass ihr Herr sie nach der Heimkehr füttern und in den Garten schicken würde.
Es versprach ein schöner warmer Herbsttag zu werden. Die Wälder fingen an, sich bunt
zu färben. Ein dunkelblauer Herbsthimmel wölbte sich über der Landschaft. Nur in der
Nähe des großen Flusses hielten sich noch ein paar Nebelschwaden. Grimm liebte diese
Jahreszeit und die stillen verklärten Tage, die sie zuweilen mit sich brachte. Heute aber
blieb seine Freude getrübt. Immer noch beschäftigten ihn sein Traum und die Frage, ob
er jemals davon loskommen würde.
Er erinnerte sich an die Nacht, in der Jutta ihn mit dem Namen Szygusch überrascht hatte.
Am nächsten Morgen im Wintergarten hatte sie ihm ihre Begegnung mit dem Mann
ausführlicher geschildert. Horst Szygusch war ihr in der Altstadt begegnet. Er blieb stehen,
als sie an ihm vorbeiging. Aus den Augenwinkeln habe sie seinen Gesichtsausdruck
wahrnehmen können, eine Mischung aus Unterwürfigkeit und Zudringlichkeit.
„Vielleicht verschwindet er bald wieder“, hatte Grimm versucht, sie zu beruhigen, aber
Jutta wusste bereits mehr. „Die alte Frau Klarwein“, sagte sie, „die Inhaberin des
Zeitungskiosks in der Osterstraße?“ Er nickte.
„Der hat er von sich erzählt. Er hat im Gefängnis eine Lehre als Möbeltischler absolviert –
jetzt hat er sich arbeitslos gemeldet. Er sucht einen Job.“
„Hier?“
„Ja, hier.“
Während Grimm die Haustür öffnete und die Hunde ins Haus ließ, erinnerte er sich, wie
niedergeschlagen Jutta an diesem Morgen ausgesehen hatte. Noch etwas hatte sie
erwähnt. Offenbar hatte Szygusch die alte Anna Klarwein zu seiner Vertrauten auserkoren.
Es sei jetzt an der Zeit, dass man ihn wieder aufnehme in der Stadt und ihm verzeihe.
Er habe fünf Jahre lang im Gefängnis gesessen, bereut und gearbeitet und versucht,
sich mustergültig zu verhalten.
Mein Gott, hatte Grimm damals gedacht. Dieser Szygusch bringt jemanden um, nicht im
Zorn, sondern indem er seinem Opfer auflauert. Geplant und vorbereitet, kaltblütig und
absichtlich also. Dafür bekommt er fünf Jahre Jugendstrafe, weil er zum Zeitpunkt der
Tat noch nicht volljährig war und weil er ein milieugeschädigter Junge sei, aufgewachsen
bei seiner allein stehenden Mutter, der Vater ein Asozialer, der Frau Szygusch mit ihrem
Balg allein gelassen habe.

Mechanisch erledigte Grimm die Handgriffe, die zu seiner vormittäglichen Routine
gehörten. Die Hunde füttern, Wasser aufsetzen für seinen Kaffee, Brot, Butter, irgendein
Brotaufstrich, Marmelade oder Wurst auf den Tisch in den Wintergarten stellen, die
Hunde in den Garten lassen, seinen Kaffee aufbrühen und anfangen zu frühstücken.
Der helle Raum im Gericht stand ihm vor Augen, in dem die Verhandlung stattgefunden
hatte. Diese Verteidigerin! Unerträglich. Schließlich habe Thomas Grimm den Angeklagten
mehrfach gedemütigt, indem er ihn in Gegenwart von Karin Göbel von oben herab
behandelt habe. Außerdem hätten Karin und Thomas ihre Verliebtheit geradezu zelebriert
und zur Schau gestellt, was in der kleinen Stadt allgemein bemerkt worden sei und was
für einen sozial schlechter gestellten Jungen, der ebenfalls in Karin Göbel verliebt
gewesen sei, eine ständige Kränkung und Herabsetzung bedeutet habe. Zum Beweis
dafür, dass Thomas und Karin den Angeklagten geradezu provoziert hätten, wurden
Zeugen aufgerufen. Anna Klarwein, das Klatschweib der Stadt, die ihren Laden, in dem
sie Zeitungen und Zigaretten feilbot, vor allem zur Herstellung und Weitergabe von
Gerüchten und Unterstellungen benutzte.
Ja, sie müsse das leider bestätigen, ließ die alte Klarwein das Gericht wissen, Thomas
und Karin hätten sich auf der Straße immer sehr auffällig benommen. Nein, nicht nur
Küsse hätten sie getauscht, sondern … Nein, über so etwas wolle sie lieber nicht sprechen.
Diese Berührungen und diese Blicke. Das gehöre sich doch nicht. Und mindestens
einmal habe sie beobachtet, wie Herr Szygusch, ja, ja, der junge Horst Szygusch, das
mitangesehen habe, als er bei ihr Zigaretten gekauft habe.
„Ansehen musste. Die standen ja direkt vor meinem Geschäft. Man wusste ja nicht, wo
man hinsehen sollte, Frau Rechtsanwalt.“
„Danke für Ihre Aussage. Hat noch jemand Fragen an Frau Klarwein?“ Ein Blick des
Richters zum Staatsanwalt, ein Blick auf die hagere blonde Frau, die Szygusch verteidigte.
Später dann die Plädoyers. Immerhin hatte der Staatsanwalt zehn Jahre Zuchthaus
beantragt.
„Aber mein Kollege stammt wohl aus einer Zeit, in der man solche Strafen im Strafgesetz-
buch ablas wie die Auskunfts- oder Abfahrtszeiten von Zügen: schematisch, fast blind
möchte ich sagen, ohne jedes Verständnis für die gesellschaftliche Situation, die hier
mit zu beurteilen ist. Armut gegen Wohlstand, Geringschätzung gegen Hochachtung,
misslaunige Duldung gegen offene Anerkennung. So etwa stellt sich die Situation dar,
wenn man unsere Gesellschaft betrachtet und in diesem speziellen Fall? Kränkung,
Herablassung, entwürdigende Zurückweisung.“ So hatte das geklungen, was aus dieser
dürren, eifernden Frau herauskam. Und Szygusch hatte dagesessen, unbewegt wie ein
erratischer Block und hatte nur vor sich hingestiert. Ob ihm Leid täte, was er da getan
habe, ob ihm klar sei, dass das nicht der richtige Weg sein könne, hatte der Richter
gefragt, so, als hätte Szygusch einen Ladendiebstahl begangen.
„Lass uns gehen“, hatte eine bleiche Jutta in einer Verhandlungspause gesagt. Gebeten
hatte sie. Nein, nicht gebeten, angefleht hatte sie ihn. Und als sie wieder zu Hause waren
und sich gegenübersaßen, hier in diesem Haus in ihrem Wohnzimmer, hatte Jutta ihn
immer wieder gefragt unter Tränen: „Was soll das heißen? Herablassung, Kränkung,
Demütigung. Mein Thomas? Das soll Thomas gewesen sein? ‚Lass mich in Ruhe‘ oder
‚Kümmere dich um deinen eigenen Kram‘, das war bei ihm doch schon das Äußerste
der Zurückweisung. Ludwig? Thomas ist tot, er kommt nie mehr wieder. Aber dieser
dumpfe Klotz, der wird wiederkommen. Ich halte das nicht aus.“
Sie waren den Verhandlungen von diesem Tag an fern geblieben. Nur einmal noch musste
er selbst in den Zeugenstand, um zu beschreiben, wie er, wie sie beide, Jutta und er, vom
Tod ihres einzigen Sohnes erfahren hatten. Damals hatte er sogar so etwas wie eine
Erleichterung darüber verspürt, dass er die Ungeheuerlichkeit des Vorfalls einer wenn
auch kleinen Öffentlichkeit schildern durfte.
Hatten sie sich Sorgen gemacht damals, er und Jutta, als Thomas an diesem Frühlings-
abend so lange ausblieb? Nein, nicht wirklich. Eher einen gewissen Unwillen hatte er
verspürt, dass Thomas sein erstes Liebeserlebnis so bedenkenlos auslebte, dass er
lange Abende, ja fast ganze Nächte fortblieb. Andererseits – er verbrachte diese Zeiten
mit Karin, Karin Göbel, die sie kannten und gern hatten. Auch ihre Eltern mochten sie,
Klaus Göbel, den Architekten, und seine Frau Henriette. Und bald würde Thomas
anfangen zu studieren, und Karin und er würden sich dann nur an einigen Wochenenden
und während der Semesterferien sehen. Ein wenig jung waren sie schon noch für eine
feste Bindung. Aber genau hatten sie, er und Jutta, ja nicht gewusst, was die beiden
miteinander unternahmen – vielleicht war alles noch recht harmlos. Und wenn Thomas
jetzt seine ersten Erfahrungen sammeln musste, dann war er bei Karin wohl besser
aufgehoben als bei irgendeinem Flittchen. Die Göbels dachten so ähnlich. Vertrauen
müsse man haben, hatte Klaus Göbel gemeint, als er ihn fragte, was er denn von dieser
Geschichte halte. Die Eltern Göbel waren an diesem Abend verreist, also waren Thomas
und Karin allein im Haus – nicht ganz allein allerdings, denn Karin hatte noch zwei jüngere
Schwestern, die noch zur Schule gingen. Alles bewegte sich in vertrauten Bahnen.
Deshalb war er auch nicht beunruhigt, als er nachts, so gegen zwei Uhr aufwachte und
Thomas‘ Zimmer immer noch leer fand. Die Unruhe kam erst am nächsten Morgen, als
Jutta ihn weckte und ihm mitteilte, dass Thomas noch immer nicht zu Hause sei. Es war
6.30 Uhr, seine normale Aufstehzeit. Um Punkt acht Uhr begann die Morgenbesprechung,
bei der die Dienst habenden Ärzte besondere Ereignisse der vergangenen Nacht
schilderten und die neu aufgenommenen Patienten vorstellten.
„Ich rufe an“, entschied er, als er Juttas Unruhe bemerkte. Etliche Sekunden später hatte
er eine verschlafene Karin am Telefon, die ein paar Augenblicke brauchte, um sich zu
orientieren. „Aber Thomas ist schon lange fort“, hörte er sie sagen. Grimm erinnerte sich,
dass er über diese vage Auskunft etwas verärgert war, aber noch ehe er fragen konnte,
was ‚schon lange‘ denn hieße, schien Karin selbst hellwach und beunruhigt zu sein.
„Um 11 Uhr ist er gegangen.“ Sie wusste es ganz genau, weil sie ihn kurz zuvor aufge-
fordert hatte, noch ein wenig zu bleiben und dabei auf die Uhr geschaut hatte.
„Wir müssen die Polizei benachrichtigen“, hatte Grimm gedacht, als er auflegte, aber in
diesem Augenblick fingen die Hunde im Keller an zu bellen. Kurz darauf klingelte es an
der Haustür, und als Jutta zur Tür stürzte und sie öffnete, sah er, dass zwei Polizisten
draußen standen. „Da wusste ich, dass etwas Furchtbares passiert sein musste“, hatte
er damals zu Protokoll gegeben.
Die Polizisten, zwei Männer im mittleren Alter, hatten gefragt, ob sie einen Augenblick ins
Haus kommen dürften, dann, noch im Hausflur, hatten sie Jutta gefragt, ob sie Frau
Grimm, die Mutter von Thomas Grimm sei, und anschließend Grimm gefragt, ob er der
Vater von Thomas sei.
„Natürlich sind wir die Eltern“, hatte die Antwort gelautet, „was ist mit Thomas?“
Dann waren sie mit ihnen die Holtenser Landstraße entlanggefahren, waren in den
Reimerdeskamp abgebogen, als wollten sie zum Haus der Göbels in der Heinestraße
fahren. Sie waren aber nicht in die Heinestraße abgebogen, sondern hielten am
Reimerdeskamp jenseits der Abzweigung der Heinestraße. Dort standen mehrere Polizei-
fahrzeuge. Die Straße und das schon zum Park gehörende Gelände links davon waren
abgesperrt. Jutta und er wurden gebeten, den Beamten zu folgen. „Es geht um die
Identifikation eines Toten“, hatte der ältere, wohl auch ranghöhere der beiden Beamten
ihnen erklärt. Noch heute hörte er Juttas Stimme, leise, gepresst, von panischer Angst
erfüllt: „Lieber Gott, lass es nicht Thomas sein. Bitte, bitte nicht Thomas.“ Die Beamten
hatten ein Tuch über den Toten gebreitet, das ihn aber nicht ganz bedeckte, seine Beine
und Füße lagen im Freien. Es waren Thomas‘ Jeanshosen und seine Schuhe.
Es ist Thomas, hatte Grimm gewusst, noch bevor die Beamten das Tuch fortzogen und
den Blick auf den jungen Mann freigaben. Da lag Thomas, auf dem Rücken, mehrere
Einschüsse in der Brust, rot von Blut. Er hatte die Augen geöffnet, die Lippen ebenfalls, so,
als ob er gerade etwas gesagt hätte oder sagen wollte, und ein merkwürdig erstaunter
Ausdruck lag auf seinem Gesicht. Immer, wenn er sich diese Szene vergegenwärtigte,
wusste Grimm, dass dies der grausamste Augenblick in seinem Leben gewesen war. Er
wollte sagen: „Ja, es ist Thomas“, aber es ging nicht, er hatte keine Stimme mehr, die
Worte formen konnte. Jutta hatte die Fassung verloren und wollte neben dem Toten
niederknien, seinen Kopf in ihre Arme nehmen. Vielleicht hatte sie in diesem Augenblick
die wahnwitzige Hoffnung genährt, dass Thomas wieder ins Leben zurückkehren würde,
wenn sie seinen Kopf in ihren Armen bergen könnte. Aber die Beamten hatten so etwas
geahnt. Sie ließen keinen Kontakt zu, redeten begütigend auf Jutta ein, während er
Thomas‘ Gesicht anstarrte und der Ausdruck des Erstaunens auch in ihn eindrang, ihn
ganz ausfüllte, bis er sagen konnte: „Mein Gott – warum? Und wer?“
Kann man weiterleben nach einer solchen Katastrophe? Sie hatten es versucht, nachdem
der erste betäubende Schmerz ein wenig abgeklungen war. Man macht sich keine
Vorstellung, dachte Grimm, als er in die Gegenwart zurückkehrte.
Er hatte sein Frühstück nicht berührt, der Kaffee war nur noch lauwarm. Er stand auf, ging
in die Küche und kehrte mit einem Becher frisch zubereiteten Nescafés zurück.
Was ihn an dem Anblick des toten Jungen geängstigt hatte, beunruhigt über das Unglück
hinaus, das sie befallen hatte, war der Ausdruck auf Thomas‘ Gesicht gewesen. Er sah
aus wie seine Mutter. So erstaunt konnte Jutta einen ansehen, wenn sie von einer
Nachricht überrascht wurde oder von einer unerwarteten Bemerkung. Und danach, bis zu
Juttas Erkrankung, wusste er insgeheim, dass dieser Ausdruck auch auf Juttas Gesicht
liegen würde, wenn sie einmal stürbe.
Grimm stützte den Kopf in beide Hände und richtete den Blick auf das farbige Weinlaub
an der Hauswand und auf die zu verschiedenen Zeiten gepflanzten Bäume im Garten. Der
Nussbaum da hinten, den hatte er nach Thomas‘ Geburt gepflanzt, und viele der kleineren
Bäume hatten sie alle zusammen gesetzt, zur Feier eines Geburtstags, eines Festes,
einer bestandenen Prüfung. Das alles wuchs weiter, hatte sich in den Wechsel der Jahres-
zeiten eingefügt, lebte, blühte, trug Früchte und verfärbte im Herbst die Blätter. Alles ging
weiter, als sei nichts geschehen. Kann man weiterleben nach so etwas, fragte Grimm sich
erneut.
Er hatte es ja fertig gebracht, er lebte ja noch, aber oft hatte er nicht gewusst, weshalb.
Sein Beruf hatte ihn wohl dazu gezwungen: seine Kranken, die Ausbildung seiner
Assistenten, der Unterricht, die Hingabe an etwas, das über das eigene Schicksal hinaus-
ging. Diese Dinge hätte er mit Thomas teilen können, wenn der seine Absicht wahr
gemacht hätte und auch Arzt geworden wäre wie sein Vater. Und Jutta? Für sie war es
noch schwerer gewesen als für ihn, aber sie hatte es versucht, ehrlich versucht.

„Ein Haus zu haben“, hatte Jutta ihm damals gesagt, „das ist doch etwas so Elementares.
Es kann Glück bedeuten. Ich will versuchen, anderen zu ihrem Glück zu verhelfen, ein
kleines Stück weit wenigstens.“
Sie hatten sich so vieles gesagt in den Jahren danach, obwohl sie beide viel Zeit an ihre
Berufe verwandten und wenig Zeit füreinander hatten. Abends in unserem Schlafzimmer,
dachte Grimm, abends und nachts haben wir uns gefunden und uns für einander geöffnet.
Und natürlich morgens, wenn sie im Wintergarten frühstückten, um den Tag gemeinsam
zu beginnen. So ganz allmählich wurde alles ein wenig leichter. Thomas war immer noch
bei ihnen. Was er für seine Patienten tat und Jutta für einige ihrer Klienten und was sie
einander wurden in diesen Jahren, alles verwies auf den Sohn. Sein Leben hatte jäh
geendet, schien jedoch in dem, was sie taten, auf zarte und geheimnisvolle Weise weiter-
zugehen.
Bis zu dem Tage, an dem Szygusch wieder auftauchte. Als sie abends schlafen gingen,
hatte er noch nichts bemerkt. Jutta war nur still gewesen. Müde ist sie, hatte er gedacht
und den Arm um sie gelegt, als sie einschliefen. Aber dann wusste er, dass Jutta nicht
schlief, dass ihre Gedanken kreisten, dass irgendein Erlebnis aus den letzten Tagen ihr
den Weg zurück in den Schlaf verwehrte. Dann hörte er dieses fast tonlos in die Nacht
gesprochene Wort „Szygusch“, seine Rückfragen und die Gewissheit, dass es fortan kein
ungestörtes Weiterleben mehr für sie beide geben könnte. Keine Heilung.
Am Morgen nach dieser Enthüllung erschien ihm Jutta übernächtigt und verstört. Sie hatte
Angst vor dem Mörder ihres Sohnes, der sich in seiner durch die Strafe erfahrenen
Läuterung geradezu sonnte und bei der alten Frau Klarwein sein Bedürfnis nach Aussöhnung
mit den Eltern von Thomas, auch mit den Eltern von Karin, und überhaupt mit der
öffentlichen Meinung in der Stadt zum Ausdruck brachte. Szygusch meldete sich zunächst
arbeitslos, was ihm ohne weiteres gelang, da er ja nun ein Diplom als gelernter Möbel-
tischler vorweisen konnte. Dann mietete er sich, so erfuhr Ludwig Grimm durch die Polizei,
ein Zimmer in der Altstadt. Dort verbrachte er seine Tage, herumirrend, Kontakte suchend,
Zeitung lesend oder Kaffee trinkend. Wer in der Altstadt zu tun hatte wie Jutta, konnte ihm
jederzeit über den Weg laufen. Und sie begegnete ihm einige Male. Fast schien es, als
warte er auf sie und hoffe, dass sich daraus irgendwann mehr als ein scheuer Blickwechsel
und ein ostentatives und erbittertes Wegsehen ergeben möge. Jutta weigerte sich
schließlich in die Altstadt zu gehen, auch wenn ihr Beruf es erforderte. Wohnungen oder
Häuser, die so lagen, dass sie auf ihren Wegen Gefahr lief, Szygusch zu begegnen, lehnte
sie ab. Ihre Stimmung verdüsterte sich, sie fiel in eine tiefe Resignation. Sie hatte Angst.
Angst, den Augenblick des Entsetzens von nun an als Dauerzustand erleben zu müssen –
vielleicht als Strafe, aber wofür? Sie aß nicht mehr, verlor an Gewicht, ließ sich gehen,
verbrachte ganze Tage im Bett, weinend oder vor sich hindämmernd. Jetzt hatte Grimm
Angst um Jutta.
„Lass uns wegziehen“, hatte sie gesagt. Aber das ging nicht. Seine Klinik brauchte ihn,
und die war hier und nicht in irgendeiner anderen Stadt. Dann erschien dieser Artikel im
Tageblatt – eine Art Interview mit Horst Szygusch. „Täter oder Opfer?“, lautete die Überschrift.

Grimm stand auf und räumte die Reste seines Frühstücks in die Küche. Dann hörte er,
dass jemand die Tür aufschloss – Frau Wehmeyer, die treue Seele, die das ganze Unglück
miterlebt hatte, die Katastrophe mit Thomas, den Prozess, die langsame und mühsame
Erholung, den schweren Rückfall in eine tiefe Depression, den Jutta erlitten hatte. Sie war
nicht weggelaufen. Auch jetzt, nachdem er seine Klinikposition aufgegeben hatte und nur
noch zweimal in der Woche in Hannover Vorlesungen hielt, war sie ihm treu geblieben.
Grimm trat in den Flur. Dort stand sie, zog ihren hellen Mantel aus und ließ Boris und
Ludmilla, die sich mit ihr ins Haus gedrückt hatten, an sich hochspringen.
„Sollen die Hunde wieder raus?“, fragte sie, und dann lächelte sie ihr sparsames nord-
deutsches Lächeln und fasste sich an ihr straff in einem Dutt zusammengebundenes
eisgraues Haar.
„Nein, lassen Sie nur“, antwortete Grimm.
„Ich mache jetzt die Küche und dann die obere Etage sauber“, sagte Frau Wehmeyer.
„Hier“, sie nahm einen Packen Briefe und Zeitungen, „die Post für heute.“
Grimm nickte, griff nach der Post und betrat sein Wohnzimmer. Und während Frau
Wehmeyer in der Küche hantierte und den Hunden zuredete, denn mit irgendjemandem
musste sie sich doch unterhalten, öffnete Grimm einen Sekretär aus Nussbaum, wühlte
ein wenig zwischen Briefen und Zeitungsausschnitten und fand schließlich, was er suchte.
Diesen Artikel über Szygusch, in dem nahe gelegt wurde, dass ein Täter nicht in erster
Linie Täter sein musste, sondern auch Opfer sein konnte: Opfer unglücklicher Lebens-
verhältnisse, Opfer seiner eigenen erotischen Neigung zu einem schönen Mädchen, dem
er nie nahe kommen würde, Opfer seiner Eifersucht gegenüber einem, der es besser hatte,
der dieses Mädchen unter seinen Augen für sich gewann und der sich seine Annäherung
verbeten hatte. Opfersein, das in Hass umgeschlagen war und sich in einem kalt überlegten
Mord entladen hatte. Jutta hatte diese Deutung nie annehmen können.
Dazu waren sie beide nicht im Stande gewesen. Schlimmer noch als dieser falsch gesetzte
Akzent war ihnen die Larmoyanz des Journalisten erschienen, der dieses Interview geführt
hatte, und die fast irreal anmutende Selbstgerechtigkeit des „Opfers“, das am Ende meinte,
er, Szygusch, habe doch auch gelitten, damals, in seiner unerwiderten Liebe zu Karin, in
seiner Eifersucht, seinen quälenden Gefühlen der Minderwertigkeit. Wie oft habe er nachts
wach gelegen und sich in Gedanken an seine Geliebte schließlich selbst befriedigt, um
überhaupt Ruhe zu finden. Wie quälend der Frust und die Scham, wenn er am anderen
Morgen aufwachte. Er hätte so nicht weiterleben können, es musste ein Ende haben! Wenn
er die Karin nicht haben könne, dann sollte der andere sie auch nicht haben.
„Vor mir sitzt ein kräftiger junger Mann, gescheiteltes blondes Haar. Ein wenig schüchtern
wirkt er, einsilbig sind die Antworten, die er auf meine Fragen gibt, spröde und lakonisch.
Erst, als ich ihn von seinem Leben erzählen lasse, von den Gefühlen für seine Mutter
und von den Kränkungen, aus denen sein junges Leben bisher bestand, von den Zurück-
weisungen durch seine Mitschüler, den Arbeiten im Haushalt, die er übernehmen musste,
damit seine Mutter arbeiten konnte, bis hin zum nicht bestandenen Abitur, gewinnt sein
Gesicht an Ausdruck, seine Stimme an Modulationsfähigkeit. Geradezu dringlich aber wird
sein Tonfall, wenn er mir versichert, wie sehr er seine Tat bedauere, wie viel er gelernt
habe während seiner Strafzeit und wie sehr er sich wünsche, dass diejenigen, die er
verletzt hat, nun, da er Reue gezeigt und Strafe angenommen habe, ihm doch bitte verzeihen
mögen.
Horst Szygusch will sich nicht verstecken. Er will da bleiben, wo er aufwuchs, er will arbeiten,
und er möchte von den Bürgern dieser Stadt wieder aufgenommen werden.“
Grimm stand auf, als er zu Ende gelesen hatte. Er schaute hinüber zur Stadt. Dahinten, die
weißen Gebäude, das Klinikum, bis vor kurzem seine Klinik. Er konnte das alles vor acht
Jahren nicht einfach aufgeben, aber er konnte auch Jutta nicht zu Grunde gehen lassen.
Der Heilungsprozess, der begonnen hatte, musste weitergehen. Ich muss etwas tun, hatte
er gedacht damals, nein, nicht nur gedacht. Er hatte sich entschlossen, etwas zu tun.
Vielleicht bot der letzte Satz in dem Zeitungsartikel einen Hinweis auf das, was zu tun sei.
Wenn nicht, dann gäbe es andere Mittel. Irgendein Mittel. Szygusch musste verschwinden.
Wie vorsichtig er sich an diese Aufgabe herangetastet hatte! Keine Spuren hinterlassen,
kein Aufhebens, Verschwiegenheit. Das waren die Grundregeln, die es einzuhalten galt.
Hatte Szygusch einen Telefonanschluss?
„Nein, bei uns ist er nicht gemeldet“, war ihm von der Auskunft mitgeteilt worden. Der Mann
stromerte den ganzen Tag in der Altstadt herum, klatschte bei Anna Klarwein, trank irgendwo
Kaffee, gaffte nach den Vorübergehenden, und er, Ludwig Grimm, fand dennoch keinen
Weg, Kontakt mit ihm aufzunehmen. Schließlich verfiel er auf das Arbeitsamt. In der Klinik
gab es eine Reihe von Wartezimmern und Aufenthaltsräumen für Patienten, deren Mobiliar
dringend erneuert werden musste. Angesichts der finanziellen Situation der Klinik wäre es
vielleicht besser, die Möbel in Stand setzen zu lassen, als neue zu kaufen. Könnte das Amt,
so ließ er seine Sekretärin fragen, ihnen vielleicht die Namen und Adressen von Tischlern
nachweisen, die eine solche Aufgabe übernehmen würden?
Es hatte funktioniert. Horst Szygusch stand auf der Liste, die ihm vom Arbeitsamt zugeschickt
wurde. Auch seine Adresse in der Altstadt wurde ihm mitgeteilt. Natürlich war Grimm nicht
gleich hingegangen. Ein paar Tage lang beobachtete er vom Auto aus den Eingang zu dem
Haus in der Marktstraße. Szygusch betrat und verließ dieses Haus mit einer gewissen
Regelmäßigkeit. Zwischen zwölf und eins kam er, zwischen drei und vier ging er wieder.
Wo er seine Abende verbrachte, wusste Grimm nicht. Er konnte nur feststellen, dass
Szygusch abends spät nach Hause kam. Ihn abends in seinem Zimmer oder in seiner
Wohnung noch zu sprechen, schien nicht aussichtsreich. Also versuchte er es eines Mittags.
Neben der Eingangstür des Giebelhauses befand sich eine Klingel mit nur einem Namen
und der lautete ,Spielvogel‘. Nur Spielvogel, kein Vorname und kein Hinweis auf Horst
Szygusch. Er klingelte trotzdem. Dies war immerhin das Haus, in dem Szygusch aus- und
eingegangen war. Es war zwei Uhr nachmittags, Szygusch sollte sich also im Haus
befinden. Eine Frau im mittleren Alter öffnete. Offenbar kam sie gerade aus der Küche,
denn sie trug eine blaue Küchenschürze, hatte die Ärmel ihres Pullovers hochgekrempelt
und hielt ein Handtuch, an dem sie sich eilig die Hände abtrocknete. Grimm hatte sich
entschuldigt und vorgestellt, allerdings nicht mit seinem richtigen Namen, sondern als
ein Herr Pferdmenges, der an den Städtischen Kliniken für Technik und Infrastruktur
verantwortlich sei. Er hätte gern Herrn Szygusch gesprochen. Zu seiner Überraschung ließ
ihn die Frau ohne weitere Umstände in einen dunklen, mit Steinfliesen ausgelegten Flur
eintreten.
„Die Treppe hinauf und dann die zweite Tür rechts“, sagte sie und zeigte auf eine Holzstiege,
die in den ersten Stock führte. „Er sollte jetzt da sein“, sagte Frau Spielvogel, wenn sie so
hieß. Vorgestellt hatte sie sich nicht. Vielleicht war sie nur eine Haushaltshilfe, denn sie
sprach Deutsch mit einem Akzent, der Grimm an eine polnische oder tschechische
Herkunft denken ließ. Jedenfalls nicht an Norddeutschland. Außerdem hatte sie ein breites,
etwas slawisch wirkendes Gesicht.
Grimm hatte dankend genickt, war die Treppe hinaufgeeilt, froh, diese Hürde genommen
zu haben, und stand nun vor einer braunen Holztür, an der ein handgeschriebener Zettel
mit dem Namen Horst Szygusch klebte. Er klopfte, und fast im selben Moment, so erinnerte
sich Grimm, wurde die Tür von innen aufgerissen. Szygusch stand vor ihm, keinen Meter
weit von ihm entfernt. Sein Gesicht wirkte genauso ausdruckslos wie damals während der
Gerichtsverhandlung. Doch dann erkannte er den Mann, der ihn da besuchte, und eine
Mischung aus Überraschung und Erleichterung trat an die Stelle der Ausdruckslosigkeit.
„Sie?“, sagte Szygusch mit belegter Stimme.
„Ich hätte gern ein paar Worte mit Ihnen gesprochen“, hatte Grimm erklärt. „Geht das jetzt?“
Szygusch war offenbar zu aufgeregt, um etwas Zusammenhängendes zu sagen. Er trat zur
Seite und ließ Grimm eintreten. Dann schloss er die Tür, nachdem er noch einen raschen
Blick nach draußen geworfen hatte. Das Zimmer war kärglich möbliert. Ein Bett stand an
der Wand. In der Mitte des Raumes befand sich ein Tisch mit ein paar Holzstühlen, und in
einer Ecke stand ein alter Ohrensessel von undefinierbarer Farbe. Auf dem Dielenfußboden
lagen bunte Teppiche, die aus groben Stoffresten gewebt waren. Durch das einzige
Fenster sah man auf die Ziegelmauer des nur einige Meter entfernten Nachbarhauses.
Zum Trübsinnigwerden, dachte Grimm. Szygusch stand hilflos irgendwo im Zimmer.
„Darf ich mich einen Moment setzen?“ Grimm wollte die Formen wahren. Er nahm auf einem
der Holzstühle Platz, noch ehe Szygusch antworten konnte. Der nickte und setzte sich auf
seine Bettkante.
„Ich bin gekommen, um Sie um etwas zu bitten.“ Grimm gab sich Mühe, seiner Stimme
einen festen, aber dennoch korrekten Ton zu geben.
„Wir, meine Frau und ich, fühlen uns durch Ihre Anwesenheit in unserer Stadt verletzt.
Besonders für meine Frau ist es unerträglich, damit rechnen zu müssen, dass Sie ihr
über den Weg laufen. Dieses Interview neulich im Tageblatt, ihre Gespräche mit Frau
Klarwein – das alles“, Grimm musste tief Luft holen, um weiter sprechen zu können, „das
kann nicht so weitergehen. Ich hoffe, Sie verstehen das.“
Im Stillen hatte Grimm sich diese Sätze immer wieder vorgesagt und gehofft, dass
Szygusch ihn nicht zu näheren Erklärungen zwingen würde, aber mit Horst Szygusch ging,
während Grimm sprach, eine merkwürdige Veränderung vor. Er war jetzt nicht mehr
überrascht, die anfängliche Befangenheit wich, sein Gesicht rötete sich, und in seinen
blauen Augen leuchtete ein Eifer, der nun auch in Worte gefasst werden musste.
„Aha“, sagte er, „also Sie wollen mich hier weghaben.“
Grimm nickte.
„Aber ich kenne nur das. Hier bin ich groß geworden.“ Szygusch hob die Schultern und ließ
sie wieder fallen. „Ich habe ja nichts anderes.“
„Sie sind jung. Sie können sich anpassen. Sie müssen ja nicht weit wegziehen, nur weg
aus dieser Stadt. Verstehen Sie doch … Ich helfe Ihnen dabei, wenn es sein muss.“
Szygusch schüttelte den Kopf. Und dann folgte eine lange verworrene Tirade, die Grimms
Beherrschung auf eine fast unerträgliche Probe stellte. Er habe doch auch Ruhe verdient,
sagte Szygusch, nach allem, was er durchmachen musste. Seine Kindheit, immer ein
Außenseiter, dann der Streit um das Mädchen, der Prozess, die Strafanstalt. „Ich habe mir
eingebildet, Sie wollten mir vergeben, wo ich Vergebung so nötig hätte, und nun wollen
Sie mich einfach weghaben.“
„Ein Mord ist kein Kavaliersdelikt, das haben Sie offenbar nicht begriffen“, hatte Grimm
unterbrochen, aber diese Ermahnung regte Szygusch nur noch mehr auf.
Er sprang auf, ging ein paar Schritte im Zimmer auf und ab und gestikulierte mit beiden
Armen. Ungeschickt sah das aus.
„Mann“, rief er mit erhobener Stimme, „Sie machen sich ja keinen Begriff, wie das ist …
Immer nur der Prügelknabe, das Arschloch, keine Hilfe außer Arbeitslosengeld …“
„Wenn es am Geld liegt, könnte ich helfen, vorübergehend“, sagte Grimm. „Suchen Sie
denn Arbeit? Ich könnte Ihnen den Anfang an einem anderen Ort vielleicht erleichtern.“
„Ich finde keine“, murmelte Szygusch und stand auf. Auch Grimm erhob sich von seinem
Stuhl.
„Sie können mich nicht zwingen wegzuziehen“, sagte Szygusch und stellte sich neben die
Tür. Grimm fixierte ihn scharf. „Nein, das kann ich nicht“, erwiderte er, „aber ich könnte es
Ihnen erleichtern.“
Er hatte nichts erreicht, außer ihm einen Köder angeboten. „Vielleicht überlegen Sie es
sich“, sagte er, bevor er an Szygusch vorbeitrat, die Tür öffnete und das Haus verließ.

Er war nach diesem Besuch zurück in die Klinik gefahren, um seine Sprechstunde für
ambulante Patienten zu halten. Die Konzentration auf die Beschwerden und Klagen anderer
Menschen lenkte ihn von seinem eigenen Kummer ab. Wenn er anderen Halt und
Orientierung geben musste, konnte er sich nicht gleichzeitig um die eigenen Schmerzen
und Ängste kümmern. Ein paar Stunden lang dachte er nicht mehr an Szygusch. Nicht,
dass er auch Thomas und Jutta vergessen hätte – aber der Gedanke an sie trat in den
Hintergrund. Erst, als er abends nach Hause fuhr und dabei den Tag überdachte, wurde
ihm klar, dass Jutta diese Möglichkeit, die seine Tage ausfüllte und die ihm Erleichterung
verschaffte, nicht hatte. Er stand fast unter Zwang, sich auf die Nöte und manchmal auf
die Not seiner Patienten zu konzentrieren – aber Jutta?
Sie hatte ihm erzählt, wie gern sie sich in ihre Klienten hineinversetzte, um die richtige
Wohnung oder das richtige Haus für sie zu finden, aber das war nicht das Gleiche. Es
begann schon damit, dass diese Wohnungen und Häuser nicht in der Altstadt liegen
durften, nicht an einem Ort, an dem sie mit Horst Szygusch zusammentreffen konnte. Sie
lebte in Angst, in einer Angst, die von Tag zu Tag größer zu werden schien, und empfing
ihren Mann, wenn sie sich abends zu Hause trafen, mit fragenden Blicken, aus denen
diese Angst ihm entgegensprang.
„Du musst noch ein wenig Geduld haben“, sagte Grimm, ohne auf die Einzelheiten seines
Besuchs bei Szygusch einzugehen. Jutta blieb stumm. Sie nippte an ihrem Tee, aß ein
paar Bissen und legte dann das Besteck beiseite, um weiter zu schweigen und zu warten.
„Dieses Warten“, sagte sie.
„Nur noch ein paar Tage. Es wird sich eine Lösung finden.“
Aber zunächst geschah nichts. Jutta zwang sich, ihrem Beruf zumindest teilweise nachzu-
gehen. Sie mied die Innenstadt, fuhr zum Einkaufen in einen der Nachbarorte und kehrte
nach Ausflügen mit Kunden auf dem kürzesten Weg in ihr Haus am Stadtrand zurück, um
dort auf ein erlösendes Wort ihres Mannes zu warten. Hatte sie nicht Geduld? Bewies sie
nicht tagtäglich und allabendlich, dass sie geduldig war und dass sie Ludwig Grimm
vertrauen wollte?
Tage vergingen. Szygusch ließ nichts von sich hören. Jutta wurde immer einsilbiger, zog
sich immer mehr in sich selbst zurück. Die stille Verzweiflung, an der sie litt, zehrte an ihr.
Mit Sorge sah Grimm, dass Juttas Gemüt sich weiter verdüsterte und ihr Körper immer
hinfälliger und zerbrechlicher wirkte.
Er musste handeln, sagte sich Grimm eines Abends und nahm sich vor, Szygusch einen
zweiten Besuch abzustatten. Noch überlegte er, wo und auf welche Weise dies geschehen
sollte, als das Telefon klingelte. Jutta ging zum Apparat, meldete sich und erstarrte. Ohne
ein Wort zu sagen, streckte sie Grimm den Hörer mit weit aufgerissenen Augen entgegen.
Noch bevor er selbst etwas gehört hatte, wusste er, wer sich melden würde.
„Horst Szygusch“, sagte eine leise Stimme am anderen Ende.
„Ja“, antwortete Grimm.
„Ich habe mir Ihr Angebot überlegt. Vielleicht können wir noch einmal über die Sache reden.“
Szygusch klang erstaunlich selbstsicher.
„Haben Sie denn eine Stelle gefunden?“, fragte Grimm. „Eine Stelle in einem entfernteren
Ort, Sie wissen schon, was ich meine. Wir haben ja darüber gesprochen.“
„In Aussicht“, erwiderte Szygusch. „Ich habe vielleicht etwas in Aussicht, aber das kostet
eben. Ich muss umziehen. Außerdem ist es nicht so wie hier, es ist eine große Stadt.
Ich würde ein Auto brauchen.“
„Also, was wollen Sie?“
Szygusch wollte sich nicht festlegen. „Was wird, wenn ich jetzt etwas sage, und nachher
ist alles viel teurer“, wandte er ein und fügte dann hinzu: „Ich will ja nicht weg von hier. Das
war ja Ihre Idee.“ Jetzt hatte Szyguschs Stimme wieder den gleichen fordernden Ton, den
er schon bei ihrer kurzen Unterredung gehört hatte. Und plötzlich begriff Ludwig Grimm,
dass dieser Mann gar nicht bereit war, auf ein Angebot einzugehen, dass ja gleichzeitig
eine Bitte war und das ein Minimum von Verständnis von ihm fordern würde, Verständnis
und eine Gegenleistung. Für so etwas hatte Szygusch keine Antenne.
Grimm hatte während der Unterhaltung auf den Teppich vor seinem Sessel gestarrt, als
erwarte er, dort irgendetwas zu finden oder zu entschlüsseln. Jetzt hob er den Blick und sah
Jutta blass und aufrecht gespannt auf dem Sofa sitzen. Sie wartete auf ein Wort, das sie
von der Gegenwart eines Fremden, der ihren Sohn getötet hatte, erlösen würde. Und so
lange dieses Wort nicht fiel, würde sie weiter warten, bleich, gequält, und sich an ihrem
Gram verzehren. Und Szygusch würde versuchen, ihn auszunutzen, vielleicht sogar ihn zu
erpressen.
„Wir werden das am Telefon nicht regeln können“, sagte Grimm. „Das geht nur unter vier
Augen. Am besten an einem Ort, an dem uns niemand kennt.“ In Gedanken sortierte er die
einsam gelegenen Restaurants und Cafés in der weiteren Umgebung, die ihm vertraut
waren. Er brauchte noch etwas Zeit. Heute war Montag.
„Geht es bei Ihnen am Mittwoch?“, fragte er, „oder Donnerstag?“
„Mittwoch“, sagte Szygusch.
„Ich kenne einen Gasthof in der Nähe von Bad Salzuflen – sehr idyllisch gelegen, mitten
im Wald. Dort kennt uns niemand. Allerdings – man muss ein Stück fahren.“ Szygusch
schien zu zögern.
„Wir könnten uns ja am Rathausplatz treffen, vielleicht um vier Uhr nachmittags“, schlug
Grimm vor.
Aber warum sollte sich Szygusch auf eine solche Verabredung einlassen?
„Ich könnte Ihnen schon etwas Geld mitbringen“, fügte Grimm hinzu, „gewissermaßen als
Zeichen dafür, dass ich es ernst meine.“
Szygusch schien noch zu überlegen. „Wie viel?“, fragte er.
„Das weiß ich noch nicht, ich muss noch darüber nachdenken. Das hängt von Ihrem
Verhalten ab. Wir werden eine Vereinbarung treffen, danach richtet sich alles Weitere.“
Szygusch schwieg wieder. Gab er sich zufrieden?
„Ach, noch etwas“, fügte Grimm hinzu, und seine Stimme klang plötzlich kalt und metallisch,
obwohl er so leise sprach, dass Jutta ihn kaum verstand.
„Was?“
„Niemand, aber auch wirklich kein Mensch erfährt von unseren Gesprächen und von
unserem Treffen, das wir heute vereinbart haben, verstanden?“
Grimm spürte, dass Szygusch Geld witterte und dass er jetzt in diesem Ton mit ihm reden
konnte.
„Wenn auch nur eine Silbe davon nach außen dringt, sehen Sie keinen roten Heller.“
Szygusch schwieg. Offenbar erwog er die Vor- und Nachteile, die sich für ihn aus der
geforderten Diskretion ergeben könnten. Immer, wenn er nachdachte, schwieg er einfach.
Er stellte keine Gegenfrage, erbat keine Klarstellung. Er dachte nach. So jedenfalls deutete
Grimm die Schweigepausen seines Gesprächspartners.
„Ja, gut“, sagte Szygusch schließlich, „bis Mittwoch.“
Grimm legte auf. Dann wandte er sich an Jutta.
„Du weißt, worum es geht?“, fragte er.
„Ich denke schon.“ Jutta wirkte plötzlich teilnehmender und lebhafter als an so vielen Abenden
zuvor. Sie stand auf, strich ihren Rock glatt und fragte: „Willst du was trinken?“
„Einen Cognac“, entschied Grimm und lächelte, und Jutta lächelte zurück, zum ersten Mal in
Wochen. Dann verschwand sie in einem Nebenraum und kam mit einer Flasche und zwei
Schwenkern zurück. Sie stellte beides auf den Tisch, an dem sie saßen, sodass Grimm
sich nur ein wenig nach vorn beugen musste, um die Flasche zu öffnen und etwas Cognac
in die beiden Gläser zu gießen.
Jutta setzte sich an das andere Ende des Sofas, ganz in seine Nähe. Sie streifte ihre
Schuhe ab, zog die Beine dicht an sich heran und stützte sich auf die Armlehne des Sofas.
Sie suchte den Blick ihres Mannes und streckte die rechte Hand aus, um ihr Glas in
Empfang zu nehmen, das er ihr reichte. Dann trank sie einen kleinen Schluck.
„Erzähl mir, was du denkst“, sagte sie, denn sie spürte, dass etwas Wichtiges geschehen
war. Das Warten hatte ein Ende. Grimm berichtete ihr von dem Inhalt des Gesprächs, das
Jutta soeben mit angehört hatte. Er erzählte nun auch von seinem Besuch bei Szygusch.
Und dann saßen sie nebeneinander und sprachen leise und aufmerksam. Hin und her
ging ihr Gespräch. Sie machten einander Vorschläge, änderten sie und verwarfen den einen
oder anderen ganz. Dann, nach zwei Stunden, bat Grimm seine Frau, noch einmal genau
zu wiederholen, was sie vereinbart hatten. Erst danach füllte er abermals ihre Gläser.

Das war hier gewesen, wurde Grimm plötzlich klar, hier in diesem Zimmer – dem Wohn-
zimmer des Hauses, das ein Stockwerk höher lag als Wintergarten und Küche. Hier auf
diesem Sessel, den er auch jetzt einnahm, hatte er gesessen, und rechts von ihm hatte
sich Jutta in die Sofaecke geschmiegt. Es fiel ihm schwer, die Szene von damals mit der
Situation von heute zusammenzubringen. Lagen sie nicht weit auseinander? Acht Jahre –
eine lange Zeit, dachte er. Aber hier an dieser Stelle war es gewesen. Derselbe Tisch,
dieselben Möbel. Damals hatte das Zimmer schon im Dunkel gelegen, als sie
miteinander sprachen, Jutta und er.
Grimm stand auf und griff nach der Post, die er vorhin von Frau Wehmeyer entgegenge-
nommen hatte. Er blätterte durch den Stapel: ein paar Rechnungen, das Ärzteblatt, ein
Brief von Juttas Schwester, die Zeitung. Grimm entfaltete die Zeitung und überflog die
Überschriften „Neue Terroranschläge in Bagdad, Wirbelstürme in der Karibik, Landtags-
wahlen in Niedersachsen“ ohne besonderes Interesse.
Auf der Lokalseite fand er einen Artikel über seine alte Klinik, die jetzt aufgeteilt worden
war. Interviews mit den beiden Nachfolgern. Sie äußerten sich zufrieden über ihre Situation.
„Geteiltes Glück muss nicht halbes Glück sein“, schrieb der Reporter und ließ die Kosten
unerwähnt, die der Stadt durch die Vermehrung von Chefarzt- und Oberarzt-Stellen entstehen
würden.
Notizen aus dem Landkreis: „Leichenfund auf Baustelle“ lautete eine kurze Notiz, in der
berichtet wurde, dass bei den Aushubarbeiten für eine Forstbaracke ein menschliches
Skelett gefunden worden sei. Erste polizeiliche Ermittlungen seien aufgenommen worden.
Sonst? Das Wetter, ja, wenigstens eine gute Nachricht. Noch weitere schöne Herbsttage
stünden bevor.
Frau Wehmeyer erschien an der Zimmertür.
„Ich möchte jetzt hier mal durchsaugen“, sagte sie und murmelte noch etwas von Ordnung
machen. Wie lange wird es dauern, wollte er fragen, aber Frau Wehmeyer hatte bereits
eine Idee, wie er die nächsten ein oder zwei Stunden verbringen sollte. „Machen Sie ein
Spaziergang zum Forsthaus“, riet sie ihm. „Die Hunde freuen sich.“ Grimm zögerte. Morgen
hatte er eine Vorlesung in Hannover zu halten, vielleicht sollte er sich lieber noch mit
seinen Unterlagen beschäftigen. Aber Luise Wehmeyer wurde plötzlich ganz energisch.
„Immer diese Stubenhockerei“, rügte sie und stellte in Aussicht, dass man heute draußen
sitzen könne. „Trinken Sie einen Kaffee, ein schönes Stück Kuchen dazu, gehen Sie unter
Menschen“, riet sie und bedrängte Grimm, indem sie den Staubsauger hinter sich herzog.
Er gab nach. Es war wirklich schön draußen, außerdem verspürte er Hunger. Das mit
dem Kuchen war vielleicht keine so schlechte Idee. Und so nahm er seine Lederjacke von
der Garderobe, griff für alle Fälle auch die Hundeleinen und trat vor die Tür, um Boris und
Ludmilla zu einem Nachmittagsspaziergang einzuladen. Sie waren sofort bei ihm und
sprangen an ihm hoch. Ludmilla schnappte nach Boris, weil der höher sprang und mehr
Aufmerksamkeit für sich erheischte. Aber sobald sie das Gartentor hinter sich gelassen
hatten und durch die Felder gingen, beruhigten sich die Gemüter der Dackel. Grimm
musste sich nur durch gelegentliche Blicke versichern, dass die beiden noch da waren.
Links von ihm lag der Reimerdeskamp und jenseits davon der Park, in dem sie Thomas
gefunden hatten. Die Bäume, die den Ort umstanden, waren inzwischen gewachsen. Das
Gebüsch war dichter geworden und wohl auch in die Höhe gegangen. Der Ort, an dem
Thomas gefunden worden war, hatte sich verändert, er hatte ein anderes Gesicht be-
kommen. Thomas selbst, wenn er heute einen Blick darauf werfen könnte, würde ihn
vielleicht nicht wiedererkennen. Aber für ihn, für den Übriggebliebenen, blieb es ein
Schreckensort. Von diesem Ort aus war sein Leben unter mächtige Zwänge geraten,
denen er sich nicht entziehen konnte. Den Tod eines Kindes hinnehmen, den Mörder
laufen lassen und ihm sogar einen gewissen Grad von Mitmenschlichkeit zugestehen,
diesem missratenen Geschöpf, das die Erinnerung an den geliebten Sohn mit seiner
eigenen Gewöhnlichkeit und Trivialität immer wieder verstellte – das ging nicht. Jutta
wäre fast zu Grunde gegangen an dieser Zumutung. Und sich rächen? Vergeltung
üben? Den unerträglichen Menschen beseitigen, ging denn das? Verdammt bist du –
wie immer du dich entscheidest. Nach diesem Morgen, an dem er Thomas tot unter den
Büschen da drüben gesehen hatte, gab es keine Freiheit mehr für ihn.
Er näherte sich jetzt dem Gartenrestaurant, dessen Besuch ihm seine Haushälterin nahe
gelegt hatte und nahm seine Hunde an die Leine. Die Sonne stand schon im Westen,
aber sie schien noch warm auf die Terrasse hinter dem Forsthaus. Viele Tische waren
besetzt. Dennoch fand er schnell einen geeigneten Platz nahe dem Terrassengeländer.
Von hier sah man hinunter über die Stadt auf den Fluss und die gegenüberliegenden Hügel.

Damals nach diesem Gespräch mit Jutta waren sie beide irgendwie getröstet, jedenfalls
beruhigt schlafen gegangen. Sie hatten jetzt einen Plan. Am nächsten Morgen entschuldigte
sich Grimm in der Klinik. Er habe etwas Dringendes zu erledigen und käme erst am Nach-
mittag ins Haus. Dann zog er sich alte Kleider an, warf ein paar Werkzeuge auf die
Ladefläche seines alten VW-Busses, Schaufel, Spaten, Spitzhacke, Harke, und fuhr los in
Richtung Salzuflen. Er erinnerte sich an einen kleinen Ort, der nördlich von Bad Pyrmont
lag. Dort gab es eine etwas außerhalb des Dorfes gelegene Schenke, die ein wenig
abseits der Straße an einem Waldstück lag. „Waldschenke“ oder „Jägerhaus“, irgend-
etwas in der Art, erinnerte er sich. Das Gasthaus war hauptsächlich Wanderern und
Ausflüglern bekannt. An Wochenenden konnte es dort lebhaft zugehen, aber mitten in der
Woche wäre es dort sicher ruhig. Er fuhr über Pyrmont, fand die Straße nach Alverdissen
und durchfuhr diesen Ort. Die Gegend, durch die er jetzt kam, gehörte zum Weserbergland.
Sie war leicht hügelig und kleinräumig. Kleine, unregelmäßig geformte Äcker, die an
ebensolche Wiesen oder Gehölze grenzten. Die Landschaft erinnerte Grimm an ein Haus
mit vielen kleinen, unübersichtlich angeordneten Zimmern. Die Waldschenke hatte er
schnell gefunden. Auf dem Parkplatz des Gasthauses stand ein einziges Auto. Grimm fuhr
weiter und kam an einen Holzweg, der von der Straße aus in den Wald führte. Er fuhr einige
Meter in den Weg hinein, stellte den kleinen Bus so hin, dass er den Weg nicht blockierte
und schlenderte zurück zum Gasthaus.
„Heute Ruhetag“ stand auf einem handgeschriebenen Zettel, den jemand in eine Plastik-
hülle gesteckt und mit vier Reißzwecken an der hölzernen Eingangstür befestigt hatte.
Der Dachgiebel über der Tür war mit dunklem Holz verkleidet. Dort hing ein
ausgeblichenes Hirschgeweih. Sehr einladend wirkte der Gasthof nicht. Aber die Speise-
karte, die sich rechts neben der Tür in einem schmiedeeisernen Schaukasten befand,
versprach gute Hausmannskost. „Probieren Sie unsere Wildspezialitäten“ stand da in
grünen altdeutschen Lettern, und für alle, die so etwas nicht wussten, „Die Bocksjagd ist
auf.“
Grimm ging zurück zu seinem Auto. Er schaute sich um, und als er sicher war, dass ihn
niemand beobachtete, nahm er die Gartengeräte von der hinteren Ladefläche, setzte sich
eine alte blaue Schirmmütze auf und zog sie in die Stirn. Dann schloss er die Heckklappe
seines Kleinbusses, schulterte sein Gerät und ging auf dem Holzweg tiefer in den Wald
hinein. Links und rechts standen Buchen, dazwischen einige Fichten. Der Anteil der
Nadelhölzer nahm allmählich zu – ein gesunder Mischwald aus Erlen, Buchen, Birken und
Fichten umgab ihn. Rechts breitete sich eine Schonung aus, in der kleine Tannen
wuchsen. Ein schmaler, sandiger Weg führte zwischen Schonung und Hochwald nach
rechts. Grimm, der in seinen alten Kleidern und mit den geschulterten Werkzeugen wie ein
Waldarbeiter aussah, folgte diesem schmalen Weg auf Gut Glück. Waldarbeiter, dachte
er. Aber wozu braucht ein Waldarbeiter eine Spitzhacke, wozu braucht er Schaufel und
Spaten? Um an geeigneter Stelle ein Loch in den verwurzelten Waldboden zu graben,
zwei Meter lang, einen Meter breit und zwei Meter tief.
Hinter der Schonung wuchsen Brombeeren und Holunderbüsche, der Weg führte daran
vorbei. Grimm suchte eine geeignete Stelle für seine Grube und fand sie hinter einem
Holunderbusch in einem Rasenstück, das nur einige Quadratmeter umfasste. Auf der dem
Holundergebüsch gegenüberliegenden Seite begann wieder Wald, Jungwald, wie Grimm
mit Befriedigung feststellte: kleine bis mittelhohe Bäume, die einen guten Sichtschutz
boten. Er warf sein Werkzeug hin, ergriff die Spitzhacke und prüfte die Festigkeit des
Bodens. Es ging. Die Grasnarbe war zäh, darunter aber ließ sich das Erdreich gut
bearbeiten und ausheben. Trotzdem geriet er bald ins Schwitzen. An derart schwere
körperliche Arbeit war er nicht gewöhnt. Zwischendurch, wenn er eine Pause einlegte,
lauschte er angestrengt nach Schritten oder Stimmen. Zuweilen verließ er seine Arbeits-
stelle und ging den Weg zurück, den er gekommen war, oder er schlug sich durch den
Jungwald, bis er wieder auf einen Holzweg gelangte, der ebenfalls auf die Bundesstraße
zurückführte, auf der er hierher gefahren war. Dann ging er zurück, lauschte noch ein paar
Augenblicke lang und machte sich wieder an die Arbeit. Ein paar Stunden grub er,
lauschte, umwanderte seinen Arbeitsplatz und kehrte zurück, um weiterzugraben. Dann
war er zufrieden und schaute auf die Uhr. Halb eins. Jetzt musste er Zweige von Büschen
schneiden, herabgefallene Äste sammeln und die Grube abdecken. Auch der Aushub, der
als Haufen Erde neben der Grube lag, musste getarnt werden. Grimm verteilte die Erde
über einige Quadratmeter und bedeckte sie mit altem Laub und Ästen, die er aus dem
Buchenwald herbeischaffte. Jetzt bewährte sich der Rechen, den er mitgebracht hatte. Nach
einer weiteren Stunde wirkte der Ort unauffällig. Nur wer genau hinsah, würde bemerken,
dass hier Zweige und Blätter bunt durcheinander lagen, die gar nicht zusammengehörten.
Grimm versteckte sein Werkzeug in einer nahen Brombeerhecke. Nur ein kleines Beil, das
er zum Abschlagen von Zweigen benutzt hatte, nahm er mit zu seinem VW-Bus. Er näherte
sich seinem Fahrzeug nicht auf dem Holzweg, sondern bewegte sich einige Meter
daneben durch den Wald. Er wollte sicher sein, dass ihn niemand beobachtete und dass
keine Polizeistreife an seinem auf dem Holzweg geparkten Wagen Anstoß genommen
hatte. Als er sich dem VW-Bus auf etwa zehn Meter genähert hatte, war er beruhigt. Kein
Mensch weit und breit, und niemand hatte ihm einen Zettel unter einen Scheibenwischer
geklemmt. Grimm entriegelte sein Auto und verstaute das Beil. Dann setzte er sich auf den
Fahrersitz, zog seine Schuhe aus, klopfte sie sorgfältig ab und legte sie neben sich vor
den Beifahrersitz. Rückwärts fuhr er aus dem Holzweg hinaus und nahm dann den Weg
über Bad Pyrmont nach Hause.

Etwas scheu waren sie miteinander umgegangen an diesem Abend. Sie hatten ihre
Entscheidung getroffen. Sie wussten beide, dass es eine verzweifelte Entscheidung war,
eine, die man nur trifft, wenn die Alternative, die man hat, noch bedrückender ist als die
Tat selbst, die auch ein Gefühl von einengender Schuld mit sich bringen würde. Jutta
sagte schließlich doch etwas – sie sprach etwas aus, das Grimm bereits wusste. Sie
wollte ihn damit nicht weiter unter Druck setzen, nicht erpressen. Nur offen wollte sie sein.
„Ich werde daran zu Grunde gehen“, sagte sie, und Grimm verstand, was sie meinte. Sie
würde den Gedanken nicht länger ertragen, dass der Mörder ihres Sohnes, – nicht ein
Totschläger im Affekt, sondern in ihrer Sicht der berechnende Mörder, der aus Hass, aus
Eifersucht und aus einem kindischen Bedürfnis, Recht zu behalten, getötet hatte -, dass
dieser Mörder unbehelligt in ihrer Nähe lebte. Nicht nur unbehelligt lebte Szygusch,
sondern sogar als eine Person, der von bestimmten Leuten Verständnis und Sympathie
entgegengebracht wurde. Von Anna Klarwein zum Beispiel oder von jenem Journalisten,
der das unsägliche Interview in der lokalen Tageszeitung veröffentlicht hatte. Auch einige
Mitglieder des Gerichts gehörten in diesen Kreis von Sympathisanten. Immerhin hatten
diese Leute den Mord selbst und die Herkunft des Mörders, seine Deformierung durch
elende familiäre Verhältnisse, fast als gleichwertige Tatsachen bewertet. Fünf Jahre
Jugendstrafe – wie anders wäre dieses Urteil zu erklären, wenn nicht durch eine solche
Sicht? So dachte Jutta, so empfand sie, und an dieser Empfindung wäre sie gestorben,
wenn er, Ludwig Grimm, das Recht nicht in seine eigenen Hände genommen hätte.
Sie blieben schweigsam und sprachen auch am nächsten Morgen nur über Alltägliches.
Den Wetterbericht im Radio hörte Grimm an diesem Morgen mit besonderer Aufmerk-
samkeit, bevor er in die Klinik fuhr.

„Seine Klinik.“ Grimm wandte den Blick nach Süden. Dahinten lag sie, seine Klinik, der
Mittelpunkt seines Lebens in so vielen Jahren, besonders in der Zeit nach dem Tod
seines Sohnes. Jutta hatte so ein Mittelpunkt gefehlt, ein solcher Halt. War sie deshalb
krank geworden?
Eine Kellnerin trat an seinen Tisch. Beide Hunde erhoben sich. Boris‘ Fell sträubte sich.
Doch als die Kellnerin freundlich auf die Dackel einredete, wechselte ihre Stimmung
schlagartig von temperierter Wachsamkeit zu schwanzwedelnder Sympathie. Einen Kaffee
bestellte Grimm und dachte an Frau Wehmeyer, die ihm empfohlen hatte, auch etwas zu
essen. „Ein Stück Kuchen“, fügte er hinzu und präzisierte seinen Wunsch, als die Kellnerin
ihm verschiedene Sorten zur Auswahl anbot: „Bienenstich.“ Sie ging wieder. Die Hunde
schauten ihr einen Augenblick nach. Dann legten sie sich zurück auf den von der Sonne
erwärmten Steinboden.

Sehr aufmerksam hatte er die Berichte seiner Stationsärzte an diesem Morgen nicht ange-
hört, erinnerte sich Grimm. Auch in der Sprechstunde, die er anschließend hielt, war er
nicht so bei der Sache wie sonst. Aber er kontrollierte sich. Gemerkt hat wohl keiner etwas,
dachte Grimm. Dann kurz vor vier war er ins Auto gestiegen und zu dem vereinbarten
Treffpunkt gefahren. Szygusch stand schon da, mitten auf dem Bürgersteig mit hängenden
Armen, und stierte vor sich hin. Die Passanten mussten einen Bogen um ihn machen. Er
stand da wie eine klobige Statue. Etwas Erstarrtes lag in seiner Haltung, eine scheinbare
Unfähigkeit sich zu bewegen, vergleichbar der Wortfindungsstörung eines Hirngeschä-
digten. Doch als Grimm, der sich langsam ihrem Treffpunkt genähert hatte, dicht an die
Bordschwelle heranfuhr und das Fenster des Beifahrersitzes herunterließ, löste sich die
Starre, und ein Ausdruck von Wichtigtuerei trat auf Szyguschs Gesicht.
„Steigen Sie ein“, rief Grimm und beugte sich über den leeren Beifahrersitz, um die Tür zu
öffnen. Aber Szygusch hatte das bereits selbst bewerkstelligt und saß nun neben ihm. Er
schloss die Wagentür, legte die Gurte an und thronte auf seinem Sitz wie einer, der seinen
Teil eines Versprechens bereits eingelöst hat und nun auf die Gegenleistung wartet.
„So, da wären wir“, sagte er und grinste herausfordernd. „Wohin soll’s den gehen?“, fragte
er, als ob sie, er und Grimm, einen Nachmittagsausflug zum Vergnügen verabredete
hätten. Grimm antwortete nicht. Zum ersten Mal streifte ihn der Gedanke, dass Szygusch
geistig gestört sein könnte. Die Mischung von aufgesetzter Würde und läppischer Heiterkeit
in einer Situation, die doch auch aus seiner Sicht von Bedeutung sein musste, irritierte
Grimm, aber er ließ sich nichts anmerken.
„Hinter Alverdissen gibt es ein ruhig gelegenes Gasthaus, dort können wir ungestört
miteinander reden. Ungestört und unerkannt“, sagte er. Er hatte bei diesen Worten seinen
Wagen beschleunigt, um noch bei Gelb über eine Kreuzung zu fahren und der Rotphase
zuvorzukommen.
„Bravo“, rief Szygusch und grinste anerkennend. „So ein Auto hätte ich gern.“
Wieder beschlich Grimm der Gedanke, dass Szygusch vielleicht mental gestört sei. Warum
das bisher niemandem aufgefallen ist, fragte er sich, während er zügig weiterfuhr.
„Machen Sie bloß keinen Mist, Mann“, rief Szygusch, als Grimm hinter Bad Pyrmont einen
anderen Wagen auf der Landstraße überholte. „Das könnte Ihnen so passen, hier einen
Unfall bauen und dann die Schuld auf mich zu schieben.“ Er schien sich nun wirklich aufzu-
regen. „Dann sind Sie mich los. Das wollen Sie doch? Oder? Aber halten Sie mich nicht
für blöde, Sie! Auch wenn Sie Doktor sind oder so was …“
„Bitte nicht aufregen.“ Grimm versuchte seinen vor Zorn rot angelaufenen Beifahrer zu
beschwichtigen. „Das war doch ein ganz normales Überholmanöver.“ Er warf einen
raschen Blick auf Szygusch. „Außerdem sind wir gleich da“, fügte er hinzu.
Diesmal fuhr Grimm auf den Parkplatz vor der Waldschenke, stellte seinen Wagen aber
ganz an den Rand des Platzes, um möglichst nahe an den Holzweg zu kommen, auf dem
er gestern sein Auto geparkt hatte. Er stieg aus. Szygusch folgte ihm und verharrte einen
Moment lang genauso unbeteiligt und starr neben Grimms Auto, wie er zuvor auf dem
Bürgersteig auf dem Rathausplatz gestanden hatte.
Grimm blickte auf seine Uhr. „Es ist noch früh, sagte er. „Ich habe uns erst um sechs Uhr
angemeldet. Wollen wir noch einen kleinen Spaziergang machen?“
Szygusch nickte und folgte Grimm, der am Rande der Landstraße zu der Einmündung des
Weges ging.
„Eigentlich geht mir dieses Gelatsche auf die Nerven“, meuterte Szygusch plötzlich. Grimm
überhörte den gereizten Ton.
„Gehen wir eine Stück in den Wald. Dahinter ist ein Weg, der uns zum Gasthaus zurück-
führt“, sagte er, und Szygusch folgte ihm.
„Haben Sie Geld mitgebracht?“, fragte er unvermittelt.
„Ja, aber darüber reden wir später, wenn es Ihnen recht ist. Jetzt wüsste ich gern, wo Ihre
neue Stelle sein wird.“
„In Hamburg.“ Die Antwort kam wie aus der Pistole geschossen.
„Und bei welcher Firma?“
Szygusch murmelte einen Namen, den Grimm noch nie gehört hatte.
„Sind Sie sicher?“, fragte er zurück. „Diese Firma ist doch in Bremen.“ Szygusch schien
sich zu freuen. „Sie merken ja auch alles.“ Er lachte. „Doktor Allwissend, was? Na ja, die
Stelle ist tatsächlich in Bremen, aber macht das einen Unterschied? Weg ist weg! Ihnen
kann das doch egal sein, wenn ich nur weg bin.“ Sie waren an der Schonung angekommen.
„Hier lang.“ Grimm wies auf den schmalen Sandweg, der zu den Holunderbüschen führte.
Szygusch zögerte.
„Aber das Gasthaus liegt doch da“, sagte er und zeigte in die Richtung, aus der sie
gekommen waren.
„Wir haben noch Zeit. Es ist doch schön hier. Der Weg verläuft so …“ Grimm beschrieb mit
der linken Hand einen Bogen, der andeutete, dass man auf diesem Wege zur Waldschenke
zurückkehren würde. Er ging voraus, Szygusch trottete hinterdrein. Jetzt waren sie auf der
Höhe der Büsche angekommen. Grimm machte ein paar Schritte, um an die Stelle zu
gelangen, an der er gestern gegraben hatte. Auch hierhin folgte ihm Szygusch, blieb dann
jedoch abrupt stehen und atmete tief. „Gesunde Luft“, rief er. „Meine Mutter hat mich immer
ermahnt: ‚Geh an die frische Luft‘, – jetzt ist es soweit.“
Grimm zeigte auf einen Baumstumpf am Rande des Grasfleckens. „Setzen Sie sich
dorthin.“ Er sprach mit Entschlossenheit und Autorität. Szygusch bemerkte die Veränderung
in Grimms Stimme, und da er nur einen Schritt weit neben dem Baumstumpf stand, auf
den Grimm gezeigt hatte, setzte er sich tatsächlich. Er spürte wohl, dass der andere jetzt zur
Sache kommen wollte, wenngleich er noch nicht wusste, um welche Sache es sich dabei
eigentlich handelte.
Grimm stand wenige Schritte von Szygusch entfernt. Er fixierte den Mann auf dem Baum-
stumpf, der jetzt wieder eine merkwürdig starre Haltung einnahm und teilnahmslos vor sich
hin starrte.
„Sie haben gemordet, Szygusch. Kaltblütig und berechnend aus niedrigen Beweggründen,
aus Hass, Neid, aus Eifersucht und Rechthaberei. Gott weiß, was in Ihnen vorgegangen
ist, als Sie Thomas erschossen, aber Sie haben Thomas aufgelauert, als er aus dem
Haus der Göbels kam, Sie haben ihn angerufen, dann gezielt und abgedrückt. Nicht nur
einmal, sondern mehrere Male, so lange, bis Sie sicher waren, dass Ihr Opfer tot war. So
lange, bis Ihr Hass und Ihre Eifersucht sich zumindest für den Augenblick erschöpft hatten.
Fünf Jahre Haft haben Sie bekommen für den Mord an einem jungen Menschen, der in
jeder Hinsicht besser war als Sie – vielleicht auch glücklicher – in jedem Fall aber besser
als Sie, viel besser. Fünf Jahre Haft, dazu psychotherapeutische Sitzungen und eine Lehre
als Möbeltischler gratis, als Strafe für einen kaltblütigen, brutalen Mord. Danach die
Freiheit sich niederzulassen, wo Sie wollen, der Rat, sich arbeitslos zu melden und die
entsprechende Unterstützung zu beziehen, und obendrein die Freiheit, die Mutter Ihres
Opfers anzustarren, sich ihr zumindest optisch aufzudrängen, und der Welt, das heißt dem
Krähwinkel, in dem wir leben, etwas von Läuterung und Vergebung vorzufaseln.“
Während Grimm sprach, war Szygusch auf seinem Baumstumpf immer mehr in sich
zusammengesunken. Er sah aus, erinnerte sich Grimm, wie eine aufblasbare Figur, die
langsam Luft verliert und dabei schrumpliger und unansehnlicher wird. Zunächst glaubte
Grimm, dieses Zusammensinken sei eine Reaktion auf seine Anklage, aber dann kamen
ihm Zweifel. Jetzt sah es aus, als sei Szygusch im Begriff einzuschlafen.
Grimm zögerte. „Hören Sie mir überhaupt zu?“, rief er, trat auf ihn zu und fasste ihn an der
Schulter. Szygusch schreckte hoch und starrte Grimm mit weit aufgerissenen Augen an.
„Ja?“, fragte er.
„Ich finde, dass Sie eine strengere Strafe verdient haben, als diese fünf Jahre Sanatorium,
Szygusch. Zunächst habe ich geglaubt, ich könnte Sie überreden, woanders hinzugehen.
Aber das war wohl umsonst. Jetzt müssen Sie sterben. In ein paar Sekunden werde ich
Sie erschießen.“
Bei diesen Worten hatte Grimm eine Pistole aus der Jackentasche gezogen und sie auf
Szygusch gerichtet. Aber Szygusch reagierte nicht. Er starrte den Mann, der ihm mit aus-
gestrecktem Arm eine Pistole entgegenhielt, verständnislos an.
„Was ist das nun wieder?“, fragte er. „Sie wollten mir einen guten Rat geben, und Geld
sollte ich auch bekommen, und was ist jetzt? Die weite Reise zu diesem Restaurant, dann
im Wald spazieren gehen. Ich gehe nie im Wald spazieren … Und nun spielen Sie mit
dieser Pistole. Ich habe jetzt bald genug von Ihnen, Mann, dieses ganze Gerede, von dem
ich nur die Hälfte verstanden habe.“
Szygusch stand auf und nahm wieder seine starre, verlassene Haltung ein. „Ich gehe jetzt“,
murmelte er, aber er bewegte sich nicht.
Er ist krank, schoss es Grimm durch den Kopf. Wenn ich ihn jetzt erschieße, töte ich einen
Kranken, der nicht weiß, was mit ihm geschieht. Aber er ist ein Mörder. Er wird nicht aus
unserem Leben verschwinden, meldete sich eine andere Stimme zu Wort. Wenn er
weiterlebt, wird Jutta nie zur Ruhe kommen.
Szygusch schien ihn jetzt wieder wahrzunehmen. „Was ist nun?“, fragte er. „Gehen wir,
oder spielen wir hier weiter? Soll ich mich frei machen, Herr Doktor?“ Er knöpfte seine
Jacke auf, zog sein Hemd aus der Hose und entblößte seine Brust. Grimm wunderte sich
über die Blässe seiner Haut. Ging er nie in die Sonne? Sollte er diese Alabasterhaut mit
einem Schuss durchbohren? Dann wäre es getan. Seine Waffe war entsichert, er brauchte
nur den Zeigefinger zu krümmen, und Szygusch wäre tot. Aber er schaffte es nicht. Auch
als Szygusch das Spiel beendete, indem er sein Hemd zurück unter seinen Hosenbund
stopfte und die Jacke wieder schloss, brachte Grimm es nicht fertig, Szygusch aus der Welt
zu schaffen. Was war mit ihm los? Er wollte den Mörder seines Sohnes zur Strecke
bringen. Er wollte nicht, dass Jutta daran zu Grunde ging, dass dieser Mann, diese stupide,
grinsende Erscheinung, sich zwischen sie und ihre Erinnerungen an Thomas drängte.
Dennoch ließ er den Arm sinken. Er konnte nicht jemanden töten, der keine Beziehung mehr
zu seiner Tat hatte. Vielleicht, dachte Grimm, hat er nie gewusst, was es heißt, einen
Menschen zu töten. Er ist krank, sagte er sich immer wieder. Was nützt es mir, wenn ich
einen Menschen aus der Welt schaffe, dem seine Tat nichts bedeutet? Jemanden um-
bringen, das lag für Szygusch auf der gleichen Linie wie jemandem eine runter hauen oder
ihm sein Fahrrad klauen oder ihn auf andere Weise schädigen.
„Wenn ich jetzt mitkomme, sprechen wir dann über das Geld, das Sie mir versprochen
haben?“
„Nein!“ Die Heftigkeit, mit der Grimm dieses Wort hervorstieß, entsprang der verzweifelten
Einsicht, dass er, Ludwig Grimm, nicht im Stande war und wohl nie fähig sein würde, das
Dilemma zu lösen, in dem er steckte. Was soll nun werden? dachte er. Nie in seinem
Leben hatte er sich so hilflos gefühlt.
Szygusch reagierte aufgebracht. „Sie haben es aber gesagt“, rief er, „sogar versprochen.“
Und dann folgte die alte Tirade, die schon früher über Anna Klarwein und über die Zeitung
zu Grimm gedrungen war und die er selbst bei seinem Besuch bei Szygusch hatte anhören
müssen. Von seinen Leiden sprach Szygusch. „Auch ich habe gelitten“, rief er ein um das
andere Mal, „jawoll, gelitten.“ Er habe es verdient, dass man ihm verzeihe. Guten Willen
habe er gezeigt in der Strafanstalt und danach. „Jetzt ist es genug“, rief er und „bis hierher
und nicht weiter.“ Es waren immer die gleichen Floskeln, die Szygusch zwar lärmend, aber
merkwürdig unbeteiligt vorbrachte. Trotz der Leere seiner Redensarten und der fast
zufälligen Reihenfolge, in der sie geäußert wurden, wirkte der Auftritt fast einstudiert.
Wie ein Roboter, der ein Programm abspult, hatte Grimm dabei gedacht. Seine Ratlosigkeit
war nun vollständig. Sie ging in Apathie über. Als Szygusch sich anschickte, den Ort ihrer
Auseinandersetzung zu verlassen, folgte Grimm ihm fast willenlos.
In diesem Augenblick geschah etwas Unerwartetes. Aus dem Holundergebüsch trat eine
vermummte Gestalt, die an Grimm vorbeilief und mit heller, entschiedener Stimme Szygusch
zum Stehenbleiben aufforderte. Die Gestalt hatte sich eine Art Kapuze aus schwarzem Stoff
mit einer ebensolchen Gesichtsmaske übergestülpt. Zwei Sehschlitze verrieten die Lage
der Augen. Um den Mund war ein weiterer größerer Schlitz angebracht, der die Lippen und
etwas helle Haut erkennen ließ. Außerdem trug die Gestalt Handschuhe. In der rechten
Hand hielt sie eine Pistole, die sie nun auf Szygusch richtete.
„Nicht schießen“, schrie Grimm und wollte in drei Worten erklären, warum die Gestalt nicht
schießen sollte. „Er ist krank“, wollte er rufen, aber da krachte es schon, einmal, gleich
darauf ein zweites Mal. Es waren nicht einmal besonders laute Geräusche, weniger laut
jedenfalls als die Gewehrschüsse, die jetzt, Ende Mai, durch den Wald rollten, wenn Jäger
auf Wild schossen. Schalldämpfer, fragte sich Grimm, aber da war Szygusch schon
zusammengebrochen und lag nur wenige Meter von der Grube, die er gestern für ihn aus-
gehoben hatte, auf dem Waldboden. Er lag auf der Seite, zusammengekrümmt wie ein
ungeschlachter Embryo. Ein blutiges Rinnsal trat aus dem linken Mundwinkel, floss an
seinem Kinn und Hals entlang und versickerte in der Erde.
„Lauf hinaus auf den Holzweg“, befahl die Stimme. „Sieh nach, ob jemand in der Nähe ist.“
Und Grimm, der einige Sekunden zuvor noch wie gelähmt herumgestanden hatte, unfähig,
eine Entscheidung zu treffen, folgte dem Befehl ohne zu zögern und ohne Rückfrage.
Zumindest seine Umsicht war wieder da. Er spähte den schmalen Pfad der Schonung
zwischen dem Hochwald hinunter und sah niemanden. Dann trat er einige Meter in den
Wald, um parallel zu dem schmalen Pfad auf den breiteren Holzweg zu gelangen. Auch
dort sah er keinen Menschen. Zurück, durchfuhr es ihn, alle Spuren mussten beseitigt
werden, sofort. Er hatte ja nur eine Seite gesichert. Immerhin bestand die theoretische
Möglichkeit, dass jemand von der anderen Seite an den Unglücksort kommen würde.
Grimm lief im Laufschritt durch den Hochwald und schlug einen Bogen um den Ort, an
dem sich der Tote befand. Er lief, spähte, lauschte angestrengt und lief weiter, bis er
annähernd sicher sein konnte, dass niemand in unmittelbarer Nähe war. Als er zurück-
kam, hatte sich die Szene verändert. Der Tote lag nun unter einer grauen Pferdedecke,
und jemand hatte die Öffnung der Grube freigelegt.
„Fass mit an“, befahl die Gestalt, die deutlich kleiner und zierlicher war als Grimm. Jetzt
erst merkte Grimm, dass Szygusch bereits von der Decke umhüllt war. Gemeinsam trugen
sie, nein, schleiften sie den Toten zur Grube und rollten den schweren und schlaffen
Körper über ihren Rand. Den Aufprall hörte man als kurzes, dumpfes Geräusch. Dann
herrschte wieder Stille.
„Hier“, die Gestalt riss sich die Kapuze vom Kopf, eilte zu den Holunderbüschen und zog
eine Schaufel aus dem Dickicht. „Jetzt passe ich auf, und du schließt das hier. Schnell“,
fügte Jutta hinzu und verschwand. Ja, schnell, sagte er sich und stürzte sich mit seiner
Schaufel auf die lockere Erde, die er gestern noch ausgebreitet und mit Zweigen bedeckt
hatte, um keinen Verdacht zu erregen, wenn jemand hier vorbeikäme. Nur schnell die
Grube zuwerfen. Erde, Zweige, Steine – alles hinein, hinunter in die Grube, die sich
allmählich schloss. Von der Decke war nichts mehr zu sehen, nur Erdreich, gelbes und
später braunes Erdreich. Jutta kam zurück.
„Nimm den Spaten“, sagte Grimm, und zusammen arbeiteten sie einige Minuten lang wie
von Sinnen, um die Grube zu füllen. Zwischendurch stampfte Grimm das Erdreich fest.
Dann kratzten sie den Rest des Aushubs von gestern zusammen und warfen die Erde auf
die Fußspuren, die er dabei hinterlassen hatte. Zweige, Laub. Er holte den Rechen und
ließ die frische Wunde im Waldboden unter getrockneten Blättern und Zweigen und Resten
von Moos und Gras verschwinden.
„Genug jetzt!“ Jutta wurde ungeduldig. „Gib mir das Werkzeug.“ Sie schulterte Schaufel,
Spaten, Rechen und Spitzhacke und sagte: „Geh jetzt, ich brauche etwas mehr Zeit, wir
gehen getrennt.“ Dann verschwand sie im Wald und bewegte sich, soweit Grimm das
sehen konnte, in eine Richtung, die seinem Weg zurück zum Rastplatz fast entgegenge-
setzt lag.
Erst jetzt, während er den Pfad zum Holzweg entlang ging, wurde ihm bewusst, dass er,
verschwitzt, verstaubt und mit Erdresten an den Schuhen, einen auffälligen Anblick bieten
musste. Er zog sein Jackett aus, brachte sein Hemd in Ordnung, säuberte seine Schuhe,
so gut es ging, und fuhr sich mit einem Taschenkamm durch die Haare. Er griff an seine
Jackentasche und fühlte die harte Kontur seiner Pistole. Seine Autoschlüssel waren da,
nein, er hatte nichts liegen lassen. Und während er den Weg zurück zur Straße und von da
zum Parkplatz der Waldschenke lief, beruhigte er sich mit dem Gedanken, dass er es ja
nicht getan hatte. Ich wollte es tun, aber ich konnte es nicht tun. Und obwohl er sich sagen
musste, dass er dennoch unlösbar in das Schicksal von Szygusch verwickelt war, zog er
aus der Gewissheit, dass er selbst Szygusch nicht getötet hatte, genügend Sicherheit, um
sein Auto zu finden, einzusteigen, den Weg zurückzufahren und dabei keinen Fehler zu
machen. Er hörte sogar die Nachrichten des NDR und empfand Erleichterung darüber,
dass für morgen und die folgenden Tage Regen angesagt war.
Er kam nach Hause, stellte seinen Wagen in die Garage, duschte sich und zog frische
Kleidung an. Seine Jacke und die Hose, die er getragen hatte, würde Jutta in die Reini-
gung geben. Nicht sofort, in ein paar Wochen, wenn alles ruhig geblieben war. Dann
hörte er, wie sich das Garagentor öffnete und wieder schloss. Kurz darauf trat Jutta ins
Wohnzimmer. Sie kam auf leisen Sohlen – ihre Schuhe hatte sie in der Garage gelassen.
Er stand auf und trat auf sie zu. „Wo ist die Verkleidung?“
„Hier.“ Jutta hielt ihm die Kapuze mit der angenähten Gesichtsmaske entgegen. „Ich
verbrenne das gleich“, sagte sie, als sie sah, wie bestürzt er war.
Er wollte Jutta ausfragen, wollte wissen, warum sie zu dem Ort gekommen war, den er ihr
am Abend zuvor beschrieben hatte, aber er brachte noch keinen zusammenhängenden
Satz heraus.
„Warum?“, war alles, was er fragen konnte.
„Ich wusste, dass du es nicht tun würdest, Ludwig“, sagte Jutta. „Deshalb habe ich mich
darauf eingestellt, es selbst zu tun.“ Sie wandte sich ab. „Ich muss das hier loswerden.“
Noch einmal hob sie ihm die Kapuze entgegen. „Außerdem muss ich etwas anderes
anziehen.“ An der Tür wandte sie sich um. „Es wird wieder gut werden“, sagte sie und
verschwand.

Es war kühl geworden auf der Terrasse. Grimm wollte gehen und winkte die Kellnerin
herbei. Sie kam so schnell, als hätte sie auf ein Zeichen gewartet. „Ich wollte nicht stören.
Sie waren so in Gedanken“, sagte sie und addierte, was Grimm zu bezahlen hatte, „einen
Kaffee, ein Mineralwasser, einen Bienenstich.“ Boris und Ludmilla hatten die plötzliche
Aktivität am Tisch als Zeichen zum Aufbruch gedeutet und zerrten an ihren Leinen. Grimm
streckte sich. Ein wenig steif fühlte er sich nach dem langen Sitzen. Er ließ die Hunde
laufen, denn auf dem Nachhauseweg über die Felder drohte ihnen keine Gefahr. Der Weg
führte leicht bergab. Grimm genoss die Frische der Luft und das spätnachmittägliche Licht.
Vor sich und ein wenig unterhalb seines Weges sah er die Stadt, dahinter die Hügelzüge
des Weserberglandes. Innerhalb dieses kleinen Areals hatte sich abgespielt, woran er
heute den ganzen Tag denken musste. Es wird wieder gut werden. Dieser Satz blieb bei
ihm, als er den Weg zurückging. War es wieder gut geworden?
Ja und nein. In dieser Reihenfolge, sagte er sich. Da unten befand sich auch der Friedhof,
auf dem Jutta endgültig Ruhe gefunden hatte.
Grimm öffnete das Tor zu seinem Garten. Bis zum Einbruch der Dunkelheit würde er die
Hunde noch draußen lassen. Er trat ins Haus. Frau Wehmeyer war gegangen und hatte
diese Tatsache auf einem Zettel vermerkt, den sie auf die Spiegelkommode im Flur gelegt
hatte. „Bin schon gegangen“, stand da und die tröstliche Ankündigung „Komme morgen
Vormittag.“
Grimm streifte seine Jacke ab und hängte sie in die Garderobe. Dann trat er ins Wohn-
zimmer und sah zu, wie die Sonne der sanften Höhenlinie im Westen immer näher kam.
War es gut geworden, fragte er sich erneut.

An dem Abend jenes Tages, an dem sie Szygusch hinter sich gelassen hatten, sprachen
sie kaum noch über das, was sich ereignet hatte. Sie verbrachten diese Stunden so, wie
sie schon unzählige Abende gemeinsam verbracht hatten. Jutta bereitete ein leichtes
Abendessen vor, Grimm öffnete eine Flasche Weißwein und stellte Gläser auf den Tisch.
Beim Essen wunderte er sich: „Ich wusste nicht, dass du eine Pistole im Hause hast?“
„Von meinem Vater“, sagte Jutta beiläufig. „Er hat mir schon als junges Mädchen gezeigt,
wie man damit umgeht. Auch auf den Schießplatz ist er mit mir gegangen.“
„Warum?“
„Er hat gemeint, dass man in der Lage sein müsse, sich notfalls mit einer Waffe zu wehren.
‚Wenn du einmal ganz auf dich allein gestellt bist und dir niemand hilft‘, so ähnlich hat er
das begründet.“
Nur mit diesen wenigen Worten berührten sie, was sie einige Stunden zuvor getan hatten.
Es bräuchte Zeit, sagte sich Grimm, um darüber noch einmal zu sprechen.

Die Sonne war nun hinter den Hügeln im Westen verschwunden; die Stadt schräg unter
ihm lag im Schatten. Hier und da flammten Laternen auf, Fenster wurden erleuchtet, die
kleine Stadt rüstete sich für die Nacht. Grimm ging zur Haustür, rief nach den Hunden und
ließ sie ins Haus. Auf dem Weg zurück ins Wohnzimmer blieb er vor der Spiegelkommode
stehen. Er schaltete das Licht ein und musterte das Gesicht, das ihn aus dem Spiegel
ansah. Ein schmaler Kopf mit streng gescheiteltem weißen Haar. Ein hageres gebräuntes
Gesicht mit einigen tiefen Falten, die quer über die Stirn liefen und sich von den Nasen-
flügeln zu den Mundwinkeln herabzogen. Ein festes, aber nicht sehr markantes Kinn, blaue,
ein wenig belanglos blickende Augen. Er kam sich plötzlich fremd vor, als er da stand und
sein Spiegelbild betrachtete. Natürlich sah er sich jeden Morgen im Spiegel, wenn er sich
rasierte oder die Haare kämmte. Aber bei diesen Verrichtungen schaute er sich nicht
wirklich an. Regelrecht betrachtet hatte Grimm sich lange nicht, vielleicht seit Jahren nicht,
dachte er, während er sein Gesicht näher an den Spiegel schob, um alle Einzelheiten zu
erfassen, die in diesem Gesicht zu sehen waren: die angedeuteten Tränensäcke, einzelne
Bartstoppeln, die vielen kleinen Falten um die Augen, um das Kinn und um den Mund, die
schmale gerade Nase und die Lippen, die aussahen, als würden sie sich nur widerwillig
öffnen. Bin ich das wirklich, fragte sich Ludwig Grimm, der wie viele ältere Menschen eine
aus früheren Jahren stammende Vorstellung von seinem Aussehen in sich trug. Das
Gesicht, das ihm aus dem Spiegel entgegenblickte, entsprach dieser Vorstellung nur noch
in groben Zügen. Die Zeit hatte da vieles eingegraben, von dessen Existenz er heute zum
ersten Mal Kenntnis nahm. „Kein frohes Gesicht“, murmelte er. „Enttäuschung und
Einsamkeit kann man da lesen.“ Früher hatte er Diagnosen am Krankenbett gestellt. Jetzt
versuchte er es mit sich selbst. Er wandte sich ab und ging zurück ins Wohnzimmer.

Ganz allmählich und in kleinen Schritten hatten Jutta und er das Ereignis jenes Maien-
nachmittags im Wald bei Alverdissen zur Sprache gebracht.
„Ich bin dir nachgefahren, weil ich plötzlich wusste, dass du es nicht tun würdest“, sagte
Jutta. „Und dann“, sie stockte, „dann wäre alles wieder gewesen wie zuvor. Ausweglos. Und
die Anstrengung, diese maßlose Anstrengung, die uns dieser Entschluss gekostet hat,
wäre umsonst gewesen. Die Erinnerung an Thomas wäre verblasst, weil sie ewig mit
diesem vulgären und Beachtung heischenden Gesicht seines Mörders verbunden
geblieben wäre. Jetzt ist er weg. Szygusch ist nicht mehr da. In ein paar Monaten werde ich
nicht mehr wissen, wie er ausgesehen hat.“
Einige Tage später hatte Jutta fast noch einmal das Gleiche gesagt, mit einem Unterschied:
„Ich wusste instinktiv, dass du es nicht tun würdest! Aber wenn ich mich fragte, warum
nicht, dann hatte ich darauf keine Antwort. Weißt du es?“
Wusste ich es?, überlegte Grimm.
„Nein, nicht sicher“, hatte er geantwortet, „nicht wirklich.“ Aber Jutta hatte sich damit nicht
zufrieden gegeben, sondern ihn stumm und fragend angeschaut.
„Vielleicht doch“, hatte er dann gesagt und Jutta von dem seltsamen Verhalten erzählt, das
Szygusch bereits bei seinem Besuch im Haus von Frau Spielvogel und dann in noch viel
auffälligerem Maße bei ihrem letzten Spaziergang gezeigt hatte.
„Er war krank, geistig krank. Natürlich konnte ich unter diesen Umständen keine Diagnose
stellen, aber es ging in die Richtung einer Hebephrenie.“
Jutta sah ihn abermals fragend an.
„Eine besondere Form der Schizophrenie, sie hat keine gute Prognose“, erklärte Grimm.
„Aber es ist eine Krankheit, die häufiger bei jungen Menschen vorkommt. Und die
Symptome…sein merkwürdiges Verhalten…es ging in diese Richtung.“ Grimm zuckte die
Achseln. „Ich weiß es nicht genau. Jedenfalls wirkte er schwer gestört. Mit einem Mal war
der verhasste Mörder von Thomas, der dich in deinen wachen Stunden und in deinen
Träumen quälte, ein Kranker. Und da konnte ich plötzlich nicht mehr. Meine Kraft, mein
Entschluss, mein Wille, dir zu helfen, reinen Tisch zu machen, schmolzen dahin.“ Seine
Stimme verlor sich zu einem Flüstern. „Da konnte ich es nicht tun.“
Und wenn er nun nicht krank gewesen wäre, fragte sich Grimm, hätte ich es dann getan?
Er wusste es immer noch nicht, aber heute neigte er dazu, diese Frage zu verneinen.

Hier hatten sie gestanden, hier an diesem breiten Wohnzimmerfenster, durch das jetzt die
Lichter der Stadt zu ihm heraufschimmerten. An einem Abend wie heute, mit dem einzigen
Unterschied, dass damals die Stehlampen brannten. Jutta hatte nicht geantwortet, aber
die Betroffenheit, die sich plötzlich auf ihrem Gesicht abzeichnete, sprach Bände. Sie hatte
sich an ihn geschmiegt, ihn an sich gedrückt und wiederholt, was sie schon so oft gesagt
hatte: „Es wird wieder gut werden.“
Eine Zeit lang schien es auch so. Sie sprachen nicht mehr von Szygusch und von dem
Nachmittag im Mai, an dem sie ihn losgeworden waren. Jutta erholte sich. Ihre Ängste
verschwanden allmählich. Sie schien auch wieder Freude an ihrem Beruf zu finden, und er
konnte seiner Arbeit in der Klinik nachgehen, ohne sich um Jutta Sorgen machen zu
müssen. Dann eines Tages klagte sie über heftige Kopfschmerzen und über Nacken-
steifigkeit. Der Zustand verschlimmerte sich, Lähmungen traten auf. Die Chirurgen der
hiesigen Klinik riefen einen Neurochirurgen aus Hannover zur Hilfe. Aber die unmittelbar
nach dessen Eintreffen vorgenommene Operation konnte Jutta nicht mehr retten. Ihr Tod
hatte ihn ereilt wie ein Keulenschlag.

Einsamkeit, dachte Grimm und knipste die Stehlampen in seinem Wohnzimmer an. Kein
Thomas, keine Jutta mehr. In den zwei Jahren, die seit Juttas Tod vergangen waren, hatte
er Einsamkeit erfahren und ertragen müssen. Erzwungene Teilnahmslosigkeit, dachte
Grimm, die erzwungene Abtötung von Gefühlen. Als Arzt wusste er, dass eine Nervenzelle,
die keine Impulse von anderen Zellen mehr empfängt, zu Grunde geht. Geht es einem
Bewusstsein, einem Menschen, ebenso? Er fühlte sich oft elend und hoffte dennoch, dass
ihm dieses Schicksal noch eine kleine Weile erspart bleiben würde.
Wie an jedem Abend klatschte er in die Hände: das Zeichen für die Dackel, sich auf ihre
Schlafplätze zu begeben. Er ging mit ihnen die Stiege hinunter, öffnete die Tür zu ihrem
Raum und kam noch einmal ins Wohnzimmer zurück.
Dann schaltete er das Fernsehgerät ein, um Nachrichten zu sehen. Aber er kam zu früh.
Noch wurden Landesnachrichten gesendet. Irgendwo hatte es gebrannt, eine neue Schule
für geistig behinderte Kinder war eingerichtet und eröffnet worden, wegen des anhaltend
schönen Wetters bestehe in einigen Regionen des Berglands Waldbrandgefahr. „Und
zum Schluss noch eine Durchsage der Polizei: Bei den Arbeiten zur Errichtung einer
Forstbaracke im Wald bei Alverdissen sind Bauarbeiter vor einer Woche auf das Skelett
eines etwa 25-jährigen Mannes gestoßen. Die gerichtsmedizinischen Untersuchungen
sind noch nicht abgeschlossen. Die Polizei vermutet jedoch, dass es sich bei dem Fund
um die sterblichen Überreste des im Sommer 1996 spurlos verschwundenen, damals
als arbeitslos gemeldeten Horst Szygusch handeln könnte. Zweckdienliche Angaben zur
Person des seither Vermissten oder zu seinem Verbleib nehmen alle Polizeidienststellen
des Landes entgegen.
Und nun zum Wetter. Das über Mitteleuropa liegende Hoch Jutta sorgt noch einige Tage
lang für den Fortbestand des spätsommerlich warmen Wetters.“
Grimm schaltete das Gerät aus und lehnte sich in seinem Sessel zurück. Zweckdienliche
Angaben, dachte er. Die könnte er machen. Er könnte die Geschichte von Horst Szygusch,
der seinen Sohn ermordet hatte und der selbst sterben musste, weil Jutta, seine über
alles geliebte Frau, an der aufdringlichen Gegenwart dieses Menschen, einer Gegenwart,
die amtlich sanktioniert und finanziell unterstützt wurde, zu Grunde zu gehen drohte. Er
hatte Jutta dennoch verloren. Welchem Zweck also sollten die Angaben dienen, die die
Polizei erbat? Der Gerechtigkeit? Dem Recht? Der Wahrheit? Oder nur einem Medien-
gefasel von Selbstjustiz und von Rache, von menschlichen Abgründen, die sich plötzlich
aufgetan hätten? Nichts würden solche Angaben bewirken, keinem erstrebenswerten
Zweck würden sie dienen, niemandem wäre geholfen.
Manche Dinge überlässt man am besten der Zeit, dachte er, als er sich später am Abend
schlafen legte und mit der rechten Hand noch einmal über das abgedeckte Bett an seiner
Seite strich.

[top]