Herzstolpern
Autor Jürgen Drews
„Sie hat damals alles vernichtet, was auf die Herkunft des kleinen Jungen hinwies.
Die Monogramme in der Babywäsche und in dem Mäntelchen, das er anhatte.
Sie konnte den Gedanken nicht ertragen, dass der Kleine nicht ihr Kind war.
Papiere ließen sich besorgen. Eine Geburtsurkunde hat sie auch beschafft.
Ausgestellt auf den Namen Detlef Brandner. Ja, unsere Familie kam aus Salzburg,
vor langer Zeit, damals, als viele Salzburger in Ostpreußen eine neue Heimat
fanden. Wie? Ja, natürlich habe ich ihr versprechen müssen, nie jemandem von
der Herkunft des Jungen zu erzählen. Es sollte ihr Kind sein, ganz allein ihr Junge.
Detlef.“
Der alte Brandner nahm einen Schluck Bier. „Du hast auch nichts mehr?“ Aber
bevor er seinem Gegenüber das Glas füllen konnte, hatte der schon abgewinkt.
„Nein“, sagte er, „genug für heute.“
„Was sollte man auch tun im Februar 1945 mit einem verängstigten, hungrigen
Kleinkind. Halb erfroren tappte es zwischen all den fremden Menschen herum
oder kroch auf allen Vieren und schrie Mama, Mama. Was sollten wir denn tun?
Den Kleinen sich selbst überlassen? Ihn bei der Dorfpolizei abgeben? Helfen
Sie uns doch bitte, den Kleinen zu seinen Eltern zurückzubringen. So wie du das
heute manchmal bei Sportveranstaltungen hörst. Ein kleiner blonder Junge,
hört auf den Namen Peter, bekleidet mit einem blauen Mantel und braunen Stiefeln,
befindet sich am Eingang B, ich wiederhole, Eingang B. Seine Eltern werden
gebeten, ihn umgehend dort abzuholen. Nein, das ging nicht, du kannst dir ja
vorstellen, wie das war. Die Russen um uns herum. Angst, Chaos, brennende Dörfer.
Eine Welt in Auflösung, Eiseskälte. Natürlich haben wir gelegentlich etwas
unternommen, um seine richtigen Eltern wiederzufinden. Später allerdings, als wir
in einem Lager in Mecklenburg waren. Das war schon nach Kriegsende. Und dann
in einem großen Lager in Brandenburg an der Havel. Suchdienst des deutschen
Roten Kreuzes. ‚Kinder suchen ihre Eltern, Eltern suchen ihre Kinder‘. Aber es
kam nie Antwort. Nie. Vielleicht, dachten wir, sind seine Eltern umgekommen.
Therese, du kennst sie ja, war jedes Mal in Ängsten, wenn eine solche Suchaktion
lief. Und immer, wenn uns ein negativer Bescheid zukam, schloss sie den kleinen
Detlev in die Arme, wortlos, als wolle sie ihn nie wieder loslassen. Wir waren ja
beide schon ein wenig alt fürs Kinderkriegen. Therese war Jahrgang 08, wir hatten
die Hoffnung auf eigene Kinder eigentlich aufgegeben. Sag‘ mal, wir reden hier die
ganze Zeit, kann ich irgendetwas für dich tun? Nein? Sicher nicht? Na gut, du meldest
dich. Also sie war Jahrgang 08, ich bin 06 geboren, und du?“
„1918“, lautete die Antwort.
„Ja, also der kleine Detlev, der blieb dann bei uns, als wir nach Berlin kamen 1946,
und sich nie jemand gemeldet hatte. Wir konnten ihn schließlich adoptieren. Ganz
losgeworden ist Therese ihre Angst nie. Immer fürchtete sie, es würde jemand
kommen und ihr den kleinen Detlev wieder wegnehmen. Aber niemand kam. Detlev
gedieh trotz der miesen Versorgung damals. Wir sind doch damals mit Hamsterzügen
immer in die Umgebung von Berlin gefahren – in Vehlefanz bei Oranienburg kannte
ich einen Bauern, der uns wenigstens immer noch mit frischem Gemüse versorgt hat
bis nach der Währungsreform, dann wurde es ja besser. Wir waren ein komisches
Gespann: Therese, die ja nicht gerade von athletischem Körperbau war, ja also
Therese, diese grazile hübsche Frau, ich, schon etwas kräftiger, aber als Augenarzt
auch nicht gerade zum Tragen von schweren Lasten prädestiniert und der kleine
Detlev, der die meiste Zeit selbst getragen werden wollte, jedenfalls Mühe hatte, den
Weg vom Bahnhof zum Bauern auf seinen eigenen Beinen zurückzulegen.
Ach Friedrich, das war schon eine elende Zeit – und doch, weißt du was? Dennoch
nicht unglücklich. Irgendwo tief in uns keimte so etwas wie Glück, Freude am
Leben, Hoffnung, dass es wieder bergauf gehen würde. Vielleicht war es diese
Zuversicht, diese positive Spannung, die schließlich dazu beitrug, dass Therese zu
Guter letzt noch schwanger wurde. Gundula. Ja, genau, die Tochter, die heute in
Wiesbaden lebt. Wiesbaden, Friedrich, kannst du dir vorstellen, in Wiesbaden zu
leben? Nee, na Kunststück. Aber sie findet es schön dort. Ihr Mann ist beim
Fernsehen, sie hat Psychologie studiert. Im Zweifelsfall studierten Frauen aus
dieser Generation Psychologie. Na, ich glaube, sie macht das ganz gut. Kinder-
psychologie, weiß du? Sie kümmert sich um Kinder, die es irgendwie nicht
schaffen. Geburtstraumen oder Erziehungsfehler, irgendetwas halt. Gundula findet
immer etwas. Detlev blieb Thereses Liebling – obwohl Gundula ein wirklich
bildschönes Kind war. Er hat es auch am weitesten gebracht. Facharzt, Professor
der Universität. Praxis in Zehlendorf. Na, das weißt du ja. Was meinst du? Ob
Detlev heute von der Sache weiß? Ja, ich habe ihm was gesagt, nach Thereses
Tod. Ich fand, ich musste das tun. Heute kann man vielleicht manches heraus-
finden, was damals unmöglich war. Ich wollte ihn natürlich nicht beunruhigen, aber
ihm die Möglichkeit zu nehmen, nach seinen biologischen Ursprüngen zu suchen?
Also hab‘ ich es ihm erzählt; auch Gundula natürlich. Es hatte überhaupt keine
Konsequenzen. Das sei für ihn wie graue Vorzeit, sagte Detlev, damit könne er nichts
mehr anfangen. Gundula dachte genauso. Nein, Therese hat sich umsonst
geängstigt. Entschuldige“, er schnäuzte sich die Nase, „das passiert mir immer
wieder, wenn ich zu sehr an Therese denke. Ach weißt du Friedrich, am Ende
bleiben uns nur noch die Kinder und vielleicht unsere Enkel. Übrigens: Detlevs Kinder
sind mir genauso nahe wie die von Gundula. Überhaupt kein Unterschied. Sie
sind mir vielleicht noch näher, aber das liegt wohl daran, dass sie in Berlin leben
und dass es Jungen sind. Bei Gundula geht es immer ein bisschen Etepetete zu.
Du weißt schon, was ich meine. Du siehst müde aus, fehlt dir was? Vielleicht ist es
taktlos, so ausführlich von Kindern und Kindeskindern zu reden, du hättest ja auch
gern Kinder gehabt. Ihr, du und Hilde, nun sind wir zwei alte Männer, Witwer,
Hagestolze. Immerhin, du hast immer noch deine Kammermusik und deine alten
Orchesterfreunde, mit denen du Quartette spielst. Ja, Friedrich, wir sollten uns
öfter sehen, wir wohnen ja nicht weit auseinander. Du, ich glaube, du solltest mal zu
Detlev in die Praxis gehen, nur mal so zu einer Durchuntersuchung. Wann warst
du zum letzten Mal beim Arzt? Vor drei Jahren. Schäm dich. Du musst auf dich achten,
noch viel schöne Musik machen. Ich melde dich an. Detlevs Sekretariat gibt dir einen
Termin. Also, Friedrich, mein Alter, mach’s gut. Vorsicht, hier ist es glatt. Therese
hat es nie fertiggebracht, eine Gummimatte unter diesen Teppich zu legen. Ein Taxi?
Nein? Hattest du einen Mantel? Nein, es ist ja noch warm. Na gut, fahr mit der
U-Bahn. Es war schön mit dir, mein Alter. Lass von Dir hören. Auf Wiedersehen,
Friedrich.“
2.
An solchen Tagen ist der Herbst doch die schönste Jahreszeit, dachte der Alte, als
er die ersten Schritte in den Park unternahm. Heiter, still, warm, das Rascheln der
Blätter bei jedem Schritt. Sie fegten die Parkwege ja regelmäßig, aber bei dem
Blätterfall kamen sie nicht nach. Ist auch gut so, dachte der Alte und ging absichtlich
dort, wo viele Blätter lagen. Es roch gut. Es roch auch ein wenig nach feuchtem
Sand, fast nach Ostsee, ähnlich wie in Danzig. Er hatte noch eine gute Stunde Zeit,
nein, zwei Stunden, eine halbe Stunde würde er für die Fahrt in die Praxis brauchen.
Er hielt seinen Spazierstock auf dem Rücken mit beiden Händen umfasst, so
dass der Stück quer zu der Richtung stand, in die er ging. Auf belebten Straßen konnte
er das nicht machen, aber hier im Park? Sie spielten sogar noch Tennis bei dem
schönen Wetter – jetzt im Oktober. Plopp – plopp – plopp – ein paar Mal ging es so hin
und her, man hörte das Schurren der Sohlen auf dem roten Sand. Dann rief jemand
einen Spielstand oder irgendetwas über die Art, wie man eine Rückhand schlägt. Dort
drüben am Sandkasten stand eine Bank, mitten in der Vormittagssonne. Der Alte
steuerte darauf zu. Nahm Platz. Was für ein Gefühl, dachte er. Die Rückkehr des
Lebens. Dabei war es Herbst. Das Jahr war schon fortgeschritten. Aber diese Herbst-
sonne war wie eine Liebkosung. Die Abschiedarie aus Cosi fan tutte fiel ihm ein,
das leise Weben der begleitenden Geigen und Bratschen. Er schloss die Augen.
Warum können nicht alle Tage so sein wie dieser Tag? Er schlug seine Augen wieder
auf und korrigierte sich. Oder wenigstens die Mehrzahl unserer Tage. Wir haben doch
so viel erlebt, wenn wir siebzig Jahre alt sind oder drüber. Da ist es Zeit, Frieden zu
schließen, Wärme zu genießen. Warum gelang es so selten. Eine junge Frau zog ein
Kleinkind hinter sich her, einen kleinen Jungen, drei Jahre alt vielleicht? Er wiederum
hatte ein Spielzeug im Schlepp. Wie können sich diese kleinen Wichte auf diese
Weise nur fortbewegen, wunderte er sich. Die linke Hand in der rechten Hand der
Frau – war sie die Mutter oder ein Kindermädchen? – die rechte Hand an der Leine
seines Spielautos, den Blick starr nach hinten gerichtet, eben auf sein gelbes
Auto. Als der kleine Hinrich so alt war, hatten wir ihn schon verloren, schoss es ihm
durch den Kopf. Dass dieser Gedanke ihn immer wieder heimsuchte, selbst an
einem Tag wie heute, an einem so friedlichen, versöhnlichen Tag. Der kleine Hinrich.
Eine ferne Erinnerung. Fast eine Ikone, die für etwas Verlorenes stand, für ein nie
mehr erreichbares Glück. Als der geboren wurde, stand er im Feld. An der Westfront.
Und Hilde musste sich im Winter, nein, eigentlich schon im Herbst 44 allein auf
den Weg machen, mit ein wenig Habe und dem kleinen Hinrich. Gut ein Jahr alt war
das Kind damals. Dass er damals nicht bei ihr sein konnte. Den ganzen Krieg
über hatten sie ihn unabkömmlich gestellt, weil er Mitglied eines prominenten
Orchesters war. Musik war wichtig, Musik für Front und Heimat. Doch dann, als alles
zusammenbrach, galt diese Rücksicht nicht mehr. Grundausbildung in sechs
Monaten, dann Infanterist an der Westfront. Mit Hilde hatte er damals kaum Verbindung.
Ein Feldpostbrief hier und da. Die meisten kamen nie an. Er schrieb schließlich an
Hildes Eltern in Berlin. Aber diese Briefe bekam sie erst nach Kriegsende, nach dem
das Entsetzliche bereits eingetreten war. Als er aus der Kriegsgefangenschaft
entlassen wurde, 1946 im Herbst, wusste er natürlich schon, was passiert war. Er
hoffte immer noch, dass der kleine Hinrich wiedergefunden würde. Aber als er seine
Frau dann wiedersah in der Wohnung ihrer Eltern in Alt -Tempelhof, in dieser ehemals
gut bürgerlichen, jetzt halb zerstörten Wohnung, da schwand seine Hoffnung. War
das noch Hilde? Diese scheue, verdüsterte Frau, die verstört vor sich hin starrte, die
ihn nur flüchtig begrüßte und sofort fragte: „Hast du etwas gehört?“ Sie hatte ihm nie
genau berichtet, was wirklich geschah! Vielleicht wusste sie es auch gar nicht mehr.
Ein Flüchtlingstreck in Westpreußen, irgendwo bei Schneidemühl. Ein Dorf in der Nähe,
Lüben oder Lübben. Aus der stockfinsteren Nacht brachen plötzlich Scheinwerfer,
das Rasseln von Ketten, russische Panzer, von Osten kommend, überholten den
Treck auf der winterlichen Landstraße. Es muss ein entsetzliches Durcheinander
gegeben haben. Mit Planen bespannte Leiterwagen flogen von der Straße, man hörte
russische Flüche, angstvolles Kreischen, das Wiehern der durchgehenden Pferde,
ein Inferno. Sie hat das nie zusammenhängend schildern können. Keine Übergriffe,
nein. Es war eine Panzerspitze der roten Armee, die eine deutsche Einheit verfolgte.
Die Flüchtlinge kamen dazwischen.
Der Alte strich sich mit der linken Hand über die Stirn. Es wurde direkt warm. Der kleine
Steppke spielte jetzt im Sandkasten, das Kindermädchen las Zeitung. Ja, es musste
ein Kindermädchen sein. Mütter lesen nicht Zeitung, wenn ihre Kinder im Sandkasten
spielen. Wie alt wäre Hinrich heute? Mitte vierzig? Nein, ein wenig älter: Anfang
fünfzig. Ein Mann in seinen besten Jahren. Kaum vorstellbar. Die quälende Suche nach
dem Kind. Deutsches Rotes Kreuz. Augenzeugen. Zeitungsinserate. „Wir suchen
einen kleinen blonden Jungen, geboren am 23.12.43 (Hinrich Kurbjuweit), der am
31.1.1945 aus einem Flüchtlingstreck bei Lüben in Westpreußen verloren wurde und
seither verschwunden ist. Das Kind hat den russischen Vormarsch auf der Straße
nach Lüben aller Wahrscheinlichkeit nach überlebt. Es trug ein dunkelblaues
Mäntelchen mit weißen Knöpfen und Winterkleidung mit dem Monogramm H.K.
Angaben über den Verbleib des Kindes nehmen entgegen: Hilde und Friedrich
Kurbjuweit, Berlin-Tempelhof, dann die Straße und Hausnummer, Telefon gab es ja
lange nicht. Nein – und als es wieder Telefone gab, als er wieder eine regelmäßige
Arbeit hatte, bei einem der Berliner Orchester, dem Zweitbesten, wie man damals zu
wissen glaubte, dem neu Gegründeten, da war die Hoffnung geschwunden. Alles
war ergebnislos geblieben. Hilde rettete sich, indem sie den möglichen Tod des
kleinen Hinrich einfach leugnete. Er lebte irgendwo, es ging ihm gut, er hatte Eltern
gefunden, die ihn liebten, die ihn gut behandelten, warum sollte sie mit dem Schicksal
hadern, wenn es ihrem Kind gut ging. Sie betete ständig für den kleinen Hinrich,
dessen Geburtstage sie immer mit einer Kerze und einem Geburtstagskuchen feierte.
Heute wird er acht Jahre alt. Sie begleitete ihn in Gedanken durch sein ganzes
vermeintliches Leben: Hinrich Kurbjuweit, jetzt gehst du zur Schule, jetzt bist du auf
eine höhere Schule übergewechselt, jetzt bist du wohl konfirmiert worden. Hilde – sie
glaubte, dem Kind nahe zu sein, indem sie es in ihre Gebete einschloss und seine
Geburtstage feierte. „Irgendetwas davon kommt bei ihm an „, sagte sie, ich weiß es.“
Und selbst, als sie starb, vor zehn Jahren an dieser tückischen Krankheit, die sie
von Tag zu Tag mehr auszehrte, blieb sie heiter. Sie wurde fast ausgelassen, als es
zu Ende ging. Sie glaubte wohl, im Tode mit ihrem Kind wiedervereinigt zu werden,
obwohl sie doch immer vorgegeben hatte, dass Hinrich noch lebe. Widersprüche,
Widersprüche, dachte der Alte. Nein, er selbst hatte nie geglaubt, dass der Kleine das
Tohuwabohu jener Nacht überlebt hatte. Die Russen waren fort. Der Treck war
von der Straße gefegt worden. Schließlich kamen aus der Richtung, in der die
russischen Panzer verschwunden waren, deutsche Kradfahrer, Grenadiere oder so
etwas. Sie halfen beim Wiederaufstellen der Wagen und geleiteten den neu
zusammengestellten Treck auf eine nach Süden führende Straße. Sie umgingen die
Russen, gelangten irgendwie nach Brandenburg an der Havel in ein Auffanglager,
dann nach Berlin. Und ich saß bei den Engländern in Gefangenschaft und führte ein
relativ komfortables Leben – nur eben kein freies Leben. Der Alte atmete tief durch.
Wie tröstlich diese Sonne. Der Steppke hatte die Lust am Sandkastenspiel verloren.
Er ging zu der zeitungslesenden Frau und quengelte. Jetzt spazierten die beiden
auf der hölzernen Umrandung des Sandkastens und zwischendurch sprang der
Kleine mit einem kräftigen Satz in den lockeren Sand. „Nun du“, schrie er, wenn er
meinte, einen besonders weiten Sprung getan zu haben. Das Kindermädchen zierte
sich zuerst. Sie trug Schuhe mit halbhohen Absätzen und einen Sommermantel.
Aber schließlich ließt sie sich doch überreden und sprang ihrem Zögling hinterher
– immer so, dass sie ein wenig hinter seinen Einsprüngenlandete.
„Warum springst du nicht so weit?“ schrie der Steppke.
„Ich muss das erst üben, weißt du?“
„Wenn du übst, springst du dann wie ich?“
„Vielleicht.“
„Ich kann weiter springen als du.“ Der Steppke war seiner Sache sicher. Das
Kindermädchen setzte sich auf den Rand des Sandkastens und studierte wieder ihre
Zeitung. Der Alte blickte auf die Uhr. Zeit zu gehen, sonst würde er zu spät kommen.
3.
„Herr Kurbjuweit, bitte.“ Eine blassblonde Sprechstundenhilfe hatte die Tür zum Warte-
zimmer geöffnet. Der Alte erhob sich. Die Dame öffnete die Tür zum Sprechzimmer
– eine weiße gepolsterte Tür. Hinter einem hellen Schreibtisch saß ein breitschultriger
Mann in einem weißen Klinikmantel mit Stehkragen. Er stand auf und kam dem
Alten ein paar Schritte entgegen. „Herr Kurbjuweit“, sagt er in freundlichem Ton, wie
jemand, der „Guten Tag“ sagt. Der Alte erwiderte den Gruß, indem er „Herr Professor“
sagte.
„Wie geht’s?“
„Leidlich.“
„Nehmen Sie Platz, Herr Kurbjuweit, hier auf dem Sessel, untersucht habe ich sie ja
schon beim letzten Mal in der Klinik. Heute besprechen wir Ihre Befunde und die
Behandlung.“
Der Alte ließ sich in den Sessel fallen. Ein netter Doktor, leutselig, tut so, als hätte er
alle Zeit der Welt, war vielleicht kein schlechter Rat von Hermann, ihn hierher zu
schicken. Hatte sich ja auch schon bei der Durchuntersuchung in der Klinik rührend
um ihn bemüht. Wie um einen alten Freund oder um einen Verwandten. Dabei
sahen sie sich heute erst zum zweiten Mal. Der Professor griff sich einen kleinen
Stapel von Papieren, den die blassblonde Dame ihm auf den Schreibtisch gelegt hatte.
„Also, Herr Kurbjuweit, ihre Gelenkbeschwerden, damit hat es schon seine
Richtigkeit. Die Röntgenbilder“, der Doktor erhob sich und schob einige Bilder vor
einen Leuchtkasten, „die Röntgenbilder zeigen multiple arthrotische Veränderungen.
Das steht Ihnen in Ihrem Alter zu. Anlass zu einem Gelenkersatz besteht nicht“, sagte
er mit Bestimmtheit, „kein Gelenk ist so stark beschädigt, dass man es ersetzen
müsste. Also Bewegungsübungen, Massagen und wenn es Sie sehr stört, vielleicht
gelegentlich ein Schmerzmittel, ich schreibe Ihnen was auf.“
Der Alte nickte. Er hatte so etwas erwartet.
„Musizieren geht aber noch?“
„Ja“, sagte der Alte, wenn ich lange sitze beim Geigenspielen, tut mir das Kreuz weh.“
„Spielen Sie im Stehen, das ist gesünder.“
„Wenn wir Quartett spielen, müssen entweder alle sitzen oder alle stehen – wegen
der Verständigung“, sagte der Alte.
„Na, dann stehen sie eben alle vier.“
„Der Bratschenspieler hat nur ein Bein“, erklärte der Alte – „Kriegsverletzung.“
„Ich verstehe“, erwiderte der Professor, „es ist nicht so einfach in Ihrem Alter, aber es
sollte gehen mit ein paar Massagen und mit einem Schmerzmittel.“
„Und mein Magen?“ fragte Friedrich Kurbjuweit.
„In Ordnung“, beruhigte der Arzt. Gegen das Sodbrennen schreibe ich Ihnen auch
etwas auf, das nehmen Sie zunächst vierzehn Tage lang täglich, danach bei Bedarf.
Aber wie gesagt, Ihr Sodbrennen beruht auf einem Rückfluss von Säure in die
Speiseröhre. Das ist nicht gefährlich.“
„Tablette Nummer zwei“, kommentierte Kurbjuweit in einem Ton, als seinen noch
mehr negative Nachrichtenzu erwarten.
Der Arzt lächelte. Eigentlich ein nettes Gesicht, dachte der Alte, wenn er nicht so
sympathisch wäre, würde ich mehr Klagen vorbringen. Ich habe ihm ja meine
Beschwerde nicht in allen Einzelheiten geschildert. Irgendetwas in seinem Wesen
hält mich davon ab. Es ist, als ob ich ihn nicht mit unangenehmen Neuigkeiten
belasten möchte. Nur bei Hilde hatte ich früher dasselbe Gefühl. Ich wollte sie immer
schonen. Aber meinen Arzt? Den muss ich doch nicht schonen. Lächerlich, sagte
der Alte zu sich selbst, aber er verschwieg seine Beschwerden beim Wasserlassen.
Warum?
„Der Urin ist normal, die Prostata ist kaum vergrößert, entspricht in Größe und
Beschaffenheit Ihrem Alter, die Blutwerte liefern auch keinen Hinweis auf etwas
Bösartiges.“
„Aber warum brauche ich dann so lange zum Pinkeln?“ entfuhr es dem Alten. Nun
hatte er doch davon angefangen. Der Arzt lachte. „Manches“, sagte er, „geht eben
im Alter ein wenig langsamer oder schlechter als früher. Anderes geht dafür noch
gut oder sogar besser.“
„Was?“ fragte der Alte neugierig.
„Das fragen Sie mich? Sie spielen doch noch genauso gut Geige wie früher,
erzählt mir mein Vater. Der meint sogar, Sie seien jetzt besonders gut im Quartettspiel.“
„Ja“, der Alte nickte und schwieg einen Augenblick. „Manche Sachen, die mit
Wissen zu tun haben, mit Nachdenken, Erinnerung zum Beispiel. Da mögen Sie
schon Recht haben.“
Der kleine Hinrich, dachte der Alte, wäre jetzt wohl ebenso alt wie dieser sympathische
Professor, der ihm jetzt wieder erklärte, dass er eigentlich für sein Alter noch gut
beieinander sei. Er hörte gar nicht mehr richtig zu, die Gegenwart dieses Mannes
hatte etwas Wohltuendes, Beruhigendes. Wäre es nicht schön gewesen, so einen
Sohn zu haben? Abgesehen davon, dass es praktisch wäre, wenn er auch Arzt
geworden wäre. Einem eigenen Kind gegenüber würde er sich mit der Äußerung von
Beschwerden wohl weniger zurückhalten. Das war eben so. Eltern und Kinder
gehen sich eben in besonderer Weise auf die Nerven, das, meinte der Alte, konnte
man einem Außenstehenden nicht zumuten. Noch dazu einem so netten, kompetenten,
wohlmeinenden Außenstehenden. Aber er war ja nun sein Arzt. Ganz brauchte er
ihn ja nicht mit seinen Malaisen zu verschonen – schließlich war dieser Professor ja
dazu da, sich so etwas anzuhören und etwas dagegen zu unternehmen. Ja, unter-
nehmen, dachte der Alte. Er soll etwas unternehmen, damit es mir besser geht.
„Und mein Herzstolpern?“ fragte er mitten in die freundliche Rede des Professors
hinein. Der Professor ließ sich nicht stören. Er brachte seinen Satz, der sich noch auf
die Magenbeschwerden von Friedrich Kurbjuweit bezogen hatte, ruhig zu Ende.
„Trinken Sie einen alten Bordeaux oder einen gut abgelagerten Merlot.“
„Und mein Herzstolpern?“ wiederholte der Alte in kratzbürstigem Ton.
„Ihr Herzstolpern“, sagte der Doktor, „das hatten Sie doch schon als junger Mensch?
Jedenfalls haben Sie mir bei unserer ersten Begegnung so etwas gesagt?“
„Schon“, beharrte der Alte, „aber jetzt ist es schlimmer.“
„Hören Sie, Herr Kurbjuweit“, sagte der Arzt, „im Alter werden manche Beschwerden
etwas stärker. Leben Sie ein wenig vorsichtiger, essen Sie regelmäßig, trinken Sie
nicht zuviel Wein, und wenn, dann eben den richtigen.“
Der Alte schweig. Er mochte es, wenn die Stimme des Arztes ihm gut zuredete.
„Ihr EKG ist in Ordnung, auch unter Belastung“, sagte er. „In Ruhe finden sich
einzelne Extraschläge, die gehen vom linken Vorhof aus. Immer von derselben
Stelle. Das empfinden Sie als Stolpern.“
„Kann man was dagegen tun? Es stört manchmal beim Musizieren.“
„Ich kann Ihnen etwas aufschreiben. Jeden Tag eine Tablette.“
„Tablette Nummer drei.“ Der Alte sagte es nicht ohne Bitterkeit.
„Drei Medikamente am Tag – das ist nichts Ungewöhnliches“, meinte der Arzt.
„Eigentlich ist es nur eine Frage der Disziplin.“
Friedrich Kurbjuweit zweifelte. „Hoffentlich wird mir davon nicht übel“, sagte er.
Der Arzt schüttelte den Kopf. „Sie haben eine kleine Anomalie am Herzen“, sagte er
dann. Wir haben das im Ultraschall gesehen. Ihr linker Vorhof ist größer als normal.
Das haben Sie bei der Geburt mitbekommen, es ist eine erbliche Störung, übrigens
nicht gefährlich, nur eben manchmal ein wenig lästig. Wenn es Sie tröstet, Herr
Kurbjuweit, ich habe dieselbe Anomalie und gelegentlich leide ich auch unter
Herzstolpern. Ich nehme einen Beta-Blocker. Der hilft. Ansonsten bin ich gesund und
ich lege mir keine Beschränkungen auf.“ Der Arzt lächelte.
„Wenn ich einmal so alt bin wie Sie“, muss ich eben ein wenig vorsichtiger sein.
Auf mich achten.“ Professor Brandner erhob sich und ging an seinen Schreibtisch.
„Ich schreibe Ihnen die drei Medikamente auf. Gegen die Gelenkschmerzen, gegen
das Sodbrennen und gegen das Herzstolpern.“
Er schrieb etwas auf einen Rezeptblock und überreichte das Rezept seinen Patienten.
„So, kommen Sie in drei Wochen wieder vorbei?“
Der Alte zögerte noch.
„Sie haben also auch so eine Erweiterung am Herzen, im Vorhof?“
„Im linken Vorhof, ja“, bestätigte Der Arzt.
„Na ja“, der Alte wandte sich zum Gehen, „dann wird es ja nicht gefährlich sein.
Vielleicht sind wir verwandt?“
Es war einer der seltenen Augenblicke, in denen Kurbjuweit noch einen Witz versuchte.
Der Arzt lachte. „Vielleicht?“ sagte er. „Im Vertrauen: Ich bin auch ein Hypochonder“,
fügte er hinzu, “ wie viel Ärzte – und manche Musiker?“
Der Alte wandte sich zum Gehen. „Auf Wiedersehen“, sagte er.
„Auf Wiedersehen in drei Wochen“ antwortete der Professor und öffnete die gepolsterte
Tür seines Sprechzimmers, um den Alten hinauszulassen. Die blassblonde Sprech-
stundenhilfe kam ins Sprechzimmer, um die Unterlagen des Patienten Kurbjuweit,
Friedrich wieder einzusammeln.
„Ein netter alter Herr“ bemerkte sie.
„Ja“ entgegnete der Professor.
„Kennen Sie ihn schon länger?“
„Nein, unsere Väter sind Freunde. Mein Vater hat ihn zu mir geschickt.“
„Ich dachte, er sei verwandt mit Ihnen“, sagte die Sprechstundenhilfe, „Sie haben eine
gewisse Ähnlichkeit miteinander.“
„So?“ Der Professor lachte.
„Wir sind beide Hypochonder, und wir haben beide die gleiche Anomalie am Herzen.“
„Wie bitte?“
„Ach nichts.“ Der Professor winkte ab, lächelte seiner Gehilfin zu und sah auf die Uhr.
„Ich muss mich beeilen, sonst komme ich zu spät in die Klinik.“
„Dann darf ich jetzt Frau Kummer reinlassen?“
Der Arzt nickte. „In zwei Minuten“, sagte er.
Die Sprechstundenhilfe schloss die Tür, um nach Frau Kummer Ausschau zu halten.
Der Professor stellt sich vor den Spiegel und prüfte seine Gesichtszüge.
„Dieser Kurbjuweit“, sagte er dabei leise vor sich hin, „mit seinem Herzstolpern.“