Wie alles begann …

Autor Jürgen Drews

Die Gesellschaft hatte sich aus dem Garten ins Haus bewegt und war nun im Begriff, an dem festlich
gedeckten langen Tisch im Salon Platz zu nehmen. Dieser Vorgang nahm etwas Zeit in Anspruch,
weil die Hausherrin Platzkarten verteilt und auf diese Weise eine Sitzordnung hergestellt hatte, von der
sie sich eine angeregte Unterhaltung versprach. Der Ehrengast, ein namhafter Diabetologe aus
Frankfurt am Main, der einige Stunden zuvor im Institut einen Vortrag gehalten hatte, saß rechts von ihr.
Die Frau des Ehrengastes, oder besser, seine Verlobte, denn die Hochzeit, so wurde erzählt, stünde
noch bevor, saß an der Seite des Gastgebers auf der gegenüberliegenden Seite der Tafel. Leitende
Mitglieder des Instituts, Freunde und Kollegen aus den Kliniken und Instituten der Universitäten und
ihre Frauen wechselten sich in einer von Sabine Torless festgelegten Ordnung ab. An ihrer linken
Seite allerdings war ein Platz freigeblieben. Sabine hatte diesen Platz für Felix Aumüller reservieren
lassen, Dr. Felix Aumüller, nein, sogar Professor? Sie fragte ihren Mann, der sich angeregt mit der
Begleiterin des Diabetologen unterhielt. „Werner, Felix Aumüller ist doch schon Professor?“ Torless
nickte bestätigend. Dann wandte er sich wieder der Begleiterin seines Gastes zu. Wie sollte er sie
anreden? Frau Winkler? Als solche war sie hier aufgetreten, obwohl sie eigentlich immer noch
Gamilschegg hieß, – Hanna Gamilschegg. Werner Torless nannte sie einfach „gnädige Frau“, um
das Problem zu vermeiden.
„Wo bleibt Aumüller?“ Torless schaute auf seine Uhr. Sabine Torless zuckte die Achseln und machte
dazu ein etwas verlegenes Gesicht. Sie mochte Felix Aumüller, er war gescheit, amüsant, witzig.
Außerdem war er noch Junggeselle, und Frau Torless hatte Freude daran, den hochaufgeschossenen
Enddreißiger, dessen dunkelblonder Haarschopf immer aussah, als sei er nie mit einem Kamm in
Berührung gekommen und der immer gute Laune zu haben schien, auf Gesellschaften herumzu-
reichen, bei denen auch die heiratsfähigen Töchter aus befreundeten Familien auftraten. Schließlich
lebten sie in Wien, – wo diese Form der Eheanbahnung immer noch praktiziert wurde. Außerdem
meinte Sabine Torless, sich auch persönlich um Felix Aumüller kümmern zu müssen. Er lebte hier in
Wien ganz ohne Anhang, soweit ihr das bekannt war. Seine Familie befand sich vollzählig oben im
Norden, in der Gegend von Hamburg. Hier hatte er ja niemanden, sagte sich Sabine Torless, wenn
sie Felix an Wochenenden zum Essen einlud oder ihm telefonische Ratschläge für die Führung
seines Haushalts erteilte. „Ein wenig bemuttern“, nannte sie das. Die Assistenten des Instituts, von
denen heute Abend einige am Tisch saßen, witterten allerdings weiter gehende Motive. In Anspielung
auf den Namen ihres Chefs bezeichneten sie dessen kinderlos gebliebene Ehe mit Sabine gern als
„torloses Unentschieden“ und vermuteten in der Freundschaft von Sabine Torless zu Felix Aumüller
mehr als den Versuch einer älter gewordenen, aber immer noch ansehnlichen Frau, sich einen
Ersatzsohn zuzulegen. Aber das waren eben die Assistenten.
Plötzlich öffneten sich die Schwingtüren, die das große Esszimmer mit der Küche verbanden. Einige
junge Leute servierten die Vorspeise. Es handelte sich um Studenten, die ihre ernsthaften Absichten
durch eine berufsnahe Kleidung zum Ausdruck brachten, – dunkle Hosen, weiße Hemden oder
ebensolche Röcke und Blusen. Studenten, die sich auf diese Weise ein Taschengeld, oder wie man
hier in Wien sagte, ein „Körberlgeld“ hinzuverdienten. Sie servierten ein wenig ungelenk, aber sehr
schnell.
Dennoch gelang es Felix Aumüller, seinen Platz neben Sabine Torless zu erreichen, bevor die Vor-
speise serviert wurde. Er war durch die Schwingtür mit den servierenden Studenten in den Raum
getreten und saß plötzlich da, wo er hingehörte, – oder bereits einige Minuten früher hingehört hätte.
Seiner Nachbarin, die, das wusste Felix, ihm alles verzeihen würde, raunte er irgendeine Entschul-
digung ins Ohr, die gleichzeitig ein Schuldbekenntnis zu sein schien. Dann, um seiner Zerknirschtheit
angemessenen Ausdruck zu verleihen und um gleichzeitig den neugierigen Blicken der anderen
Gäste auszuweichen, schlug er nach den erklärenden Worten beide Hände vor sein Gesicht und ver-
harrte einige Sekunden lang in dieser Haltung. Sabine ging auf dieses Theater ein und legte Aumüller
sozusagen als Zeichen der Absolution, die sie im Namen der ganzen Tischrunde erteilte, ihre linke
Hand auf den Rücken. Jetzt ließ Aumüller die Hände sinken, doch wer vermutet hatte, hinter dieser
nun entfernten Fassade noch Zeichen des Bedauerns zu entdecken, wurde enttäuscht. Felix Aumüller
schenkte der Tischrunde ein strahlendes Lächeln. Einige erwiderten dieses Zeichen von Lebens-
freude, indem sie ebenfalls lächelten oder dem neu Hinzugekommenen freundlich zunickten, andere
wie Professor Torless schüttelten leise den Kopf. „Na endlich“, murmelte er.
„Guten Appetit“ wurde nun allerseits gewünscht. Aumüller stimmte in dieses Tischgemurmel mit
einiger Verzögerung ein, sodass sein Wunsch deutlich an alle Ohren drang, als die Gäste ihre Messer
und Gabeln bereits ergriffen hatten, um der Vorspeise, einer Gemüsepastete mit Sauerrahm, zu
Leibe zu rücken.
Hanna Gamilschegg, die fast schon verehelichte Frau Winkler, sah den Neuankömmling einige
Sekunden lang unverwandt an, bevor sie sich ihrer Pastete widmete und zu den etwas weitschweifi-
gen Erzählungen ihres Tischnachbarn zurückkehrte, – mit gut gespielter Aufmerksamkeit. Immer
wieder aber blickte sie zu Felix Aumüller, an den sie eine besondere Erinnerung zu haben schien.
Felix erwiderte zunächst keinen dieser Blicke, sondern berichtete von seinen Bemühungen, einen
orts- und sprachunkundigen Taxifahrer nach Hietzing in die Leopoldsgasse zu manövrieren. Er habe
es praktisch schon aufgegeben, hier noch vor dem Dessert zu erscheinen, verkündete Felix, als der
Mann rein zufällig gegen die erlaubte Fahrtrichtung in diese Gasse eingebogen sei. Der Fahrer habe
seinen Fehler immerhin bemerkt und versucht, durch ein rasches Durchfahren der Leopoldsgasse
wieder auf sicheres Terrain zu gelangen.
„Ich musste Gewalt anwenden, um ihn zum Anhalten zu bewegen“, erzählte Felix seinen erheiterten
Tischnachbarn.
„Wie ham’S denn des fertig brocht?“ wollte ein beleibter Herr wissen, der als ‚Herr Hofrat‘ angeredet
wurde.
„Würgegriff“, antwortete Aumüller und hob zur Illustration seinen angewinkelten rechten Arm.
Der Hofrat lachte. „Und ols er nimma hot schnaufen kenna, do san’s do gewesen.“
„Da stand ich genau vor dem Haus“, flunkerte Felix, der mindestens hundert Meter zu Fuß gegangen
war und sich überdies von seinem Fahrer nicht mit einem Würgegriff, sondern einem recht ansehn-
lichen Trinkgeld verabschiedet hatte.
„Allerdings verspätet, wie gewöhnlich“, ließ sich Professor Torless vernehmen. „Übrigens, Herr
Aumüller, wir konnten Sie mit Frau Winkler noch gar nicht bekannt machen, – eben, weil….. na, lassen
wir das.“
Hanna lächelte freundlich. Für eine Erkennungsszene war jetzt nicht der richtige Augenblick. Immerhin
fragte Felix: „Haben Sie nicht in Berlin studiert?“ Er nannte ein paar Jahreszahlen. „Ihr Gesicht
kommt mir bekannt vor. Damals allerdings, wenn ich mich recht erinnere“, improvisierte Aumüller,
„trugen Sie Ihre Haare kurz. Das gab Ihnen so einen Anflug von Keckheit, etwas Vorwitziges. Bei den
männlichen Kommilitonen kam das blendend an.“ Hanna wurde ein wenig rot.
„Aber so, wie Sie die Haare jetzt tragen, ist das eigentlich fast noch hübscher.“ Felix wollte seinen
Faux pas wieder gutmachen.
„Sie hingegen haben sich überhaupt nicht verändert“, lächelte Hanna und fügte hinzu: „Selbst Ihre
Unpünktlichkeit haben Sie sich erhalten.“
„Unter den lässlichen Sünden ist die Unpünktlichkeit noch die verzeihlichste.“ Sabine Torless besann
sich ihrer Funktion als Gastgeberin und glättete die etwas in Bewegung geratene Oberfläche der
Unterhaltung. „Meinen Sie nicht auch, Herr Hofrat?“
Auch der Hofrat konnte sich Schlimmeres vorstellen. „Mord und Totschlag“, meinte er, „auch Diebstahl
san schon gravierender.“
„Aber“, mischte sich eine Kunsthändlerin ein, die rechts neben dem Hofrat saß, „wir reden ja nicht
von Straftaten, sondern, wie Frau Torless es genannt hat, von lässlichen Sünden, von denen wir alle
nicht frei sind.“ Maria van der Auwera, die es aus den Niederlanden nach Wien verschlagen hatte,
befand sich bereits in dem Alter, in dem man anfängt zu relativieren. Außerdem hatte sie das Ehepaar
Torless mit einigen recht kostbaren Bildern aus ihrem Heimatland beliefert und wünschte sich, in
dieser Tätigkeit noch eine Zeit lang fortfahren zu können.
„Unpünktlichkeit“, dozierte sie in ihrem melodischen, holländisch gefärbten Deutsch, „findet man oft
bei Menschen, die sehr viele Ideen haben und zuweilen von dieser Fülle überwältigt werden. Die Zeit
ist wie ein Sack. Wenn man zuviel hineinstopft, kriegt man ihn am Ende nicht mehr zu.“ Frau van der
Auwera lachte und entblößte dabei ihr rosiges Zahnfleisch, in dem viele kleine weiße Zähne steckten.
„So ist es“, bestätigte Felix und hob sein Glas, um der Kunsthändlerin zuzuprosten.
„Unpünktlichkeit ist nicht gleichbedeutend mit Unzuverlässigkeit“, bemerkte Herr Torless, „das
stimmt schon.“ Aber ein Rest von Missbilligung blieb unausgesprochen.
„Der Mensch ist ein so kompliziertes Wesen“, Sabine unternahm einen neuen Versuch, um die Kuh
vom Eis zu bringen. „Wer zur Unpünktlichkeit neigt, kann dennoch sehr zuverlässig sein und sehr
ordentlich. Werner ist auch nicht der Allerpünktlichste, aber er hält eiserne Ordnung, eine fast zwang-
hafte Ordnung“, wusste sie der erstaunten Runde mitzuteilen. Diese allerdings schien auf derartige
Bekenntnisse nicht vorbereitet zu sein und reagierte mit verlegenem Schweigen. Herr Torless
unternahm, man konnte es an seinem Gesicht ablesen, verschiedene Anläufe, um den Sachverhalt
richtig zu stellen, aber er fand nicht die richtigen Worte, und seine Miene glättete sich wieder, ohne
dass er etwas gesagt hätte.
„Manchmal allerdings“, ließ sich Hanna jetzt vernehmen, obwohl ihr zukünftiger Mann sie mit einem
leisen Zuruf ermahnte – „Hanna“ -, „manchmal“, sie ließ sich nicht gern unterbrechen, “ ist es schwer,
das eine vom anderen zu unterscheiden.“
„Sie meinen Unpünktlichkeit von dem Mangel an Ordnung?“ Sabine griff nach der Möglichkeit, den
Dingen eine leichtere Wendung zu geben.
„Zum Beispiel“, bestätigte Hanna. „Womit hat man es zu tun, wenn jemand seine Theaterkarten
verlegt, sich aber zu erinnern glaubt, dass die Vorstellung um acht Uhr beginnt, während sie in
Wirklichkeit schon um halb acht anfängt? Wenn er die Karten dann schließlich irgendwo findet, sich
aber nicht die Mühe macht, die Anfangszeit zu überprüfen, sondern um einige Minuten nach acht
Uhr im Theater eintrifft, dann ist er zweifellos unpünktlich. Aber unordentlich ist er auch und überdies
vergesslich.“
„Hanna, bitte“, mahnte Herr Winkler, aber Hanna fühlte sich gut in Schwung. „Also unordentlich,
schlechtes Gedächtnis und als Resultat unpünktlich.“ Am Tisch erhob sich Gelächter, in das Herr
Winkler und Felix Aumüller nicht einstimmten. „Zu allem Überfluss“, in Hannas Augen funkelte
der Übermut, „ist er auch nicht besonders höflich, denn als er seine Partnerin entdeckt, die im
Gegensatz zu ihm pünktlich erschienen ist und die nun seit einer halben Stunde vor den geschlos-
senen Türen im Theaterfoyer auf und ab geht, schüttelt er nur den Kopf und sagt: „Aber sonst hat
es immer erst um acht angefangen.“
„Was wurde denn gegeben?“ erkundigte sich der Hofrat.
„Wie es Euch gefällt“, erwiderten Hanna und Aumüller fast gleichzeitig.
„Wissen Sie, was er mir zum Trost gesagt hat?“
„Nein?“
„Den Anfang kennen wir doch schon.“
Selbst Werner Torless lachte. Herr Winkler allerdings verzog keine Miene. Er schien sich zu lang-
weilen oder das Ganze peinlich zu finden. Torless kam seinem Gast zu Hilfe. „Nehmen Sie es mir
nicht übel, gnädige Frau, wenn wir einen Augenblick fachsimpeln?“ fragte er Hanna, die sofort
zustimmte, aber keinen Augenblick daran dachte, ihr Thema aufzugeben.
Irgendwie hatte sie diesen Felix gleich wieder gemocht Diese Mischung aus Tüchtigkeit einerseits
und Schusseligkeit andererseits hat schon etwas für sich, dachte sie und ließ einen verstohlenen
Blick über das Gesicht ihres Mannes gleiten. Ihres zukünftigen Mannes, korrigierte sie sich.
Während des Hauptganges bewegte sich das Gespräch in fachlichen Bahnen. Von dort wanderte
es über die Erörterung der guten und der weniger guten Eigenschaften von Fachkollegen wieder
zurück zu seinem Ausgangspunkt. „Unzuverlässig“ sei der Kollege X aus Tübingen, bemerkte Herr
Winkler während des Desserts.
„Aber nett ist er“, Hanna nahm den Faden wieder auf, „reizend sogar“, teilte sie Herrn Torless mit,
der nicht anders konnte, als zuzustimmen. Allerdings zwang ihn die Situation zu einem einerseits –
andererseits, das in die resignierende Feststellung mündete: „Menschen sind so widersprüchliche
Geschöpfe. Im Endeffekt“, sagte Herr Torless, „läuft es darauf hinaus, ob man jemanden mag.
Natürlich muss auch eine Leistung dabei sein“, schränkte er ein, „aber das Wichtigste ist doch die
Sympathie.“
„Darauf trinken wir“, rief der Hofrat. Auch Frau von Auwera hatte ihr Glas schon in der Hand. Sie ließ
selten eine Gelegenheit aus, ihr Glas zu leeren.
„Ja, Frau Winkler“, ließ sich nun Sabine Torless vernehmen, „wie ging denn Ihre Geschichte aus?
Denn es steckt doch wohl eine eigene Erfahrung dahinter?“
„Die ging gar nicht weiter“, sagte Hanna. „Ich wusste einfach nicht, wie ich mit so einem Menschen
fertig werden sollte.“
„Sind Sie denn bis zum Ende der Vorstellung geblieben?“ fragte die Kunsthändlerin.
„Ja, schon“, Hanna lächelte, “ aber dann…“
„Dann wurde es doch noch ein netter Abend“, ließ sich nun Felix Aumüller hören. „Dieser Unpünktliche
oder Unordentliche oder Vergessliche führte seine hübsche Partnerin anschließend noch in ein
Restaurant, in dem man auch tanzen konnte. Soweit meine Informationen reichen, gingen sie dabei
beide ganz schön aus sich heraus.“
Hanna unterbrach. „Jetzt übertreibst du aber“, sagte sie mit vor Eifer gerötetem Gesicht, „von wegen
aus sich herausgehen.“
„Du hattest einen ganz schönen Schwips“, entgegnete Felix Aumüller und lachte fröhlich. „Da ist
vielleicht einiges einer retrograden Amnesie zum Opfer gefallen.“ Er wandte sich in erläuterndem
Ton zu seinen Tischnachbarn. „Wir hatten beide ganz schön gepichelt, sie mehr als ich, – ich musste
ja noch fahren. Das tat ich dann auch. Langsam mit einigen Unterbrechungen.“ Felix lächelte ver-
sonnen.
Der Hofrat freute sich: „Also hab ich mir die ganze Zeit gedacht, dass zwischen den beiden hier schon
eine längere Bekanntschaft …“
Frau van Auwera hielt ihr Glas einem der Studenten entgegen, die gerade wieder die Runde machten,
um alle Gläser zu füllen. Selbst Torless lachte, und seine Frau Sabine strich ihrem Tischnachbarn
mit der linken Hand über den Rücken und sagte: „Sie sind mir schon einer! Was für eine entzückende
Geschichte.“
Nur Professor Winkler konnte an der aufgeräumten Stimmung keinen Gefallen finden. Offenbar hatte
er von dieser Episode noch nie etwas gehört, und Überraschungen waren nicht seine starke Seite.
„Apropos fahren“, er nahm Felix Aumüllers Schilderung zum Anlass, sich und Hanna zu entschuldigen.
„Es war ein reizender Abend, aber ich bitte um Verständnis. Die letzten Tage und Wochen, viele
Vorlesungen, Sitzungen, Reisen, Sie verstehen, wenn wir jetzt in unser Hotel zurückfahren.“
Werner Torless hob die Tafel auf – wohl oder übel. Die meisten Gäste wollten noch bleiben. Herr
Winkler gab allen die Hand, auch Felix Aumüller. Hanna beschränkte ihre Abschiedsworte und Hände-
drücke auf die Gäste, mit denen sie sich unterhalten hatte. Den anderen winkte sie freundlich zu. Als
sie zu Felix kam, zögerte sie einen Moment. „Ich wusste einfach nicht, wie ich mit so einem fertig
werden sollte“, wiederholte sie und setzte hinzu: „Damals.“ Dann lachte sie, gab ihm die Hand und
ließ sich willig in den Arm nehmen, als Felix sie zum Abschied auf beide Wangen küsste.

2

Gamilschegg, dachte Felix Aumüller immer wieder während der nächsten Tage. Wo war sie jetzt?
Nach Frankfurt zurückgefahren mit diesem humorlosen Herrn Winkler? Oder war sie noch in Wien?
Ging vielleicht sogar ins Theater – allein?
Wieviele Jahre ist das her? Aumüller rechnete, während er in seinem kleinen Büro saß und den
Computerschirm anstarrte. Zehn Jahre? Hanna war ein wenig jünger als er, sie hatte ihr Examen
zwei, nein drei Semester später abgelegt als er, in Berlin an der Freien Universität. Er war damals
schon in Heidelberg, und sie hatten sich aus den Augen verloren. Anfang bis Mitte Dreißig musste
sie sein. Was sie wohl schon alles hinter sich hatte? Und jetzt will sie diesen stocksteifen Herrn
Winkler heiraten. Was ist in sie gefahren? Damals war sie eine lustige und anziehende Kommilitonin
gewesen. Und heute, neulich Abend? Immer noch lebhaft, sprudelnd, aber weicher als damals.
Fertiger. Eine schöne Frau. Unwiderstehlich eigentlich. Winkler. War sie noch zu retten? Felix wieder-
holte den Satz und sprach ihn laut vor sich hin. WAR SIE NOCH ZU RETTEN? Konnte er, Felix
Aumüller, sie retten? Musste er es nicht tun, versuchen wenigstens, nein, tun! Herrgott, dachte Felix,
dessen ironische Fähigkeiten gegenüber aufwallenden Emotionen doch sonst immer die Oberhand
behielten, Herrgott, ich bin verliebt. Dieser Winkler ist nichts für sie, Winkler ist eine Katastrophe, der
Weltuntergang. Es hielt ihn nicht mehr im Labor. Ich muss sie suchen. Notfalls fahre ich nach
Frankfurt. Ich kann nicht hier im Labor sitzen und so tun, als sei nichts. Es ist etwas, etwas sehr
Wichtiges, nein, etwas Entscheidendes sogar. Wach auf, Aumüller!
Er warf seinen Kittel auf einen Stuhl und sagte der Institutssekretärein, dass er dringend nach
Hause müsse.
„Werden Sie morgen im Institut sein?“ fragte die Sekretärin. Sie musterte ihn besorgt. „Kann man
etwas für Sie tun?“
„Weiß ich alles noch nicht, ich rufe an“, rief ihr Felix zu und rannte die Treppe hinunter, aus dem
Haus. Wohin? Auf gut Glück nach Frankfurt? Er überlegte einen Augenblick. Dann ging er ins Institut
zurück. Die junge Dame im Sekretariat war erstaunt, ihn so schnell wieder zu sehen. „Was
vergessen?“ fragte sie.
Felix nickte. „In welchem Hotel haben wir Professor Winkler und seine Begleiterin untergebracht, als
sie vor ein paar Tagen hier waren? Können Sie das herausfinden?
„Im ,Bristol'“, sagte das Fräulein, „solche Gäste bringen wir immer im ,Bristol‘ unter, wir haben dort
einen günstigen Tarif.“
„Können Sie dort einmal anrufen und fragen, ob sie schon abgereist sind? Und wenn ja, wann?
Sie konnte. Vor drei Tage, erfuhr Aumüller. Also gleich nach dem für Herrn Winkler nicht so amüsant
verlaufenen Abend. Er müsste versuchen, ihre Frankfurter Adresse zu erfahren, vielleicht doch gleich
nach Frankfurt zu fliegen.
„Stimmt was nicht?“ fragte die Sekretärein. Aumüller beruhigte sie: „Doch, doch“, sagte er
unschlüssig , „also bis später.“
Er hatte die nötigen Informationen ganz schnell beieinander. Klinikadresse, Wohnadresse, allerdings
nicht die private Telefonnummer, eine auf den Namen Gamilschegg eingetragene Arztpraxis.
Fachärztin für Hals-, Nasen- und Ohrenkrankheiten. War sie das? Heute hätte es keinen Sinn mehr,
nach Frankfurt zu fahren. In der Praxis meldete sich niemand.
Noch während er grübelte, was als Nächstes zu tun sei, klingelte sein Telefon. Es war ihre Stimme.
„Hanna? Wo steckst du? Wieder in Wien? Du, ich fahnde nach dir, seit einigen Stunden mobilisiere
ich alle meine Ressourcen, ich wollte morgen nach Frankfurt reisen, ach, Hanna, ich kann dir das
am Telefon nicht sagen, aber für mich hat sich alles verändert.“
„Erklärungsbedarf“, sagte Hanna, „besteht wohl auf beiden Seiten. Immerhin hast du meine Ehe
ruiniert, bevor sie überhaupt begann.“
„Zum Glück.“
„Das werden wir sehen“, sagte Hanna. „Heute Abend im Theater? Jetzt höre gut zu. Ich habe die
Karten. Die Vorstellung beginnt um halb acht. Hörst du? Nicht um zwanzig Uhr, sondern schon um
halb acht. Du kennst das ,Akademietheater‘?“
„Und ob“, erwiderte Felix.

3

„Ja, so hat es angefangen“, sagte Hanna Aumüller. Sie nickte und sah dabei in zwei noch jugendliche,
aber doch schon erwachsene Gesichter. „Ich habe euch diese Geschichte ja schon so oft erzählt,
als Kinder wolltet ihr sie immer wieder hören. Aber so ist es nun einmal. Kinder wollen wissen, wo
sie herkommen.“ „Du hast uns aber nie über den Abend im ,Akademietheater‘ erzählt“, bemerkte
der junge Mann, der an Hannas Seite ging. Er überragte sie um einen Kopf, war sehr schlank und
fuhr sich gelegentlich mit den gespreizten Fingern durch die blonden Haare, ohne mit dieser Geste
irgendeine Wirkung zu erzielen.
„Ach, ich weiß nur noch, dass euer Vater mit einem Strauß roter Rosen ins Theater kam. Der Strauß
war so gewaltig, dass wir ihn in der Garderobe abgeben mussten. Vor lauter Verliebtheit haben wir
am Schluss der Vorstellung vergessen, ihn wieder mitzunehmen. Was gespielt wurde, weiß ich auch
nicht mehr genau. Etwas von Shakespeare. Wir saßen wie betäubt und hielten uns“, sie lachte,
„gerade noch so, dass wir kein öffentliches Ärgernis erregten.“
Die beiden Kinder, der lange Schlaks und ein blondes Mädchen, fast schon eine junge Frau, nahmen
ihre Mutter in die Mitte. Sie hängte sich bei ihnen ein.
„Ich habe euch die Geschichte heute zum letzten Mal erzählt“, sagte Hanna und blieb stehen. Sie warf
einen Blick zurück auf den Kiesweg, den sie gegangen waren und auf die hinter ihnen liegenden
Gräber. „Die Geschichte endet hier“, sagte sie. Dann lächelte sie: „Aber es war eine glückliche
Geschichte.“

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