Der Bussard

Autor Jürgen Drews

Franklin Lakes hatte sich in den äußersten Winkel seines Gartens zurückgezogen.
Er tat das öfter in letzter Zeit, um sich das Gefühl zu geben, wenigstens für Stunden
von allem entfernt zu sein, was ihn sonst in Anspruch nahm – von der Börse, den
Telefonaten und Faxgeräten in seinem Haus, von seinen Kollegen, deren Sinnen
und Trachten einzig dem „Markt“ und seiner rätselhaften Psyche galt. Er tat es aber
auch, um sich für kurze Zeit den sanfteren Nachstellungen seiner Frau und seiner
Töchter sowie den Anrufen und Erkundigungen seiner Freunde zu entziehen. Von
hier, dem von Gebüsch umstellten südlichen Zipfel seines Grundstückes, konnte er
weder sein eigenes, fünfzig Meter entferntes Haus sehen noch die in größerer
Entfernung liegenden Villen seiner Nachbarn. Sein Grundstück grenzte im Osten an
ein Naturreservat: Auf diesem Gelände standen neben Buschwerk Hartriegelarten,
die im April Schwärme von weißen und rosa Blüten aussandten, sowie einzelne
hohe Eichen, Kiefern und Birken. Im Süden und Westen schlossen sich die Gärten
seiner Nachbarn an, die in unmittelbarer Nähe seines Grundstückes aber selten
begangen wurden und an dieser Stelle einen wohltuenden Grad von Verwilderung
aufwiesen. Hohe Brombeerbüsche, wilde Margeriten und Goldrauten wuchsen dort.
Diese Vegetation vermittelte das Gefühl von Abgeschlossenheit und Geborgenheit.
Trotzdem konnte die Nachmittagssonne ungehindert in die als Fluchtort gewählte
Oase hineinscheinen. Einige große Granitblöcke, die an dieser Stelle lagen, hatte
Franklin vor Jahren zu einem unregelmäßigen Kreis angeordnet. Dann hatte er
inmitten der Steine einen kleinen Teich von etwa sechs Metern Durchmesser
angelegt, – ein Biotop, das durch eine von Norden kommende, schwach fließende
Wasserleitung genährt wurde und dessen Wasser nach Süden in einen flachen
Drainagegraben ablaufen konnte. Am Rande dieses Grabens stand ein Gürtel von
hohen Schilfgräsern, und dort wuchs auch sibirische Iris, deren Stengel Anfang
Juni weiße, dunkelblaue und gelbe Blüten hervorbrachten. An heißen Sommertagen
schwebten blaue, grünlich schimmernde oder auch ziegelrote Libellen zwischen
Schilf und Wasserfläche hin und her, und an den langen Sommerabenden quakten
die Frösche an der Teichoberfläche so laut, sodass man ihren an- und ab-
schwellenden Gesang bis zum entfernt liegenden Haus hören konnte.
Franklin kam an diesen Ort nicht nur, um allein zu sein, sondern auch, um sich vor-
übergehend in die Gesellschaft der Tiere und Pflanzen zu begeben, die hier
heimisch waren, und um sich in ihre Welt aufnehmen zu lassen. „Parallele Welten
aufsuchen“ nannte er das. Je älter er wurde, desto mehr faszinierte ihn der
Gedanke, dass dieses Grundstück, das er vor zehn Jahren gekauft hatte, die
Bäume und Büsche, die darauf wuchsen, der Teich, den er angelegt hatte, und
selbst das Haus, das ihm ein befreundeter Architekt gebaut hatte, nicht nur ihm,
der im Grundbuch des Ortes als Eigentümer genannten Person, sondern auch
einer großen Zahl anderer Geschöpfe gehörte, die dort Zuflucht, Standort
und so etwas wie Heimat gefunden hatten: den Spechten zum Beispiel, die jedes
Jahr in einem hohlen Baum dicht neben seinem Ruheplatz nisteten und dort ihre
Jungen aufzogen, den Hausfinken, die in den hängenden Blumentöpfen unter dem
vorstehenden Dach des Hauses Nester bauten, den Waschbären, die regelmäßig
allen Abfall nach Essbarem untersuchten und die in ihrer Zudringlichkeit auch
schon auf den Boden des Hauses vorgedrungen waren. Er kannte sie alle, auch
die Erdhörnchen, die im Frühling und im Sommer geschäftig über die Granitblöcke
huschten, um Nahrung zu sammeln und Vorräte anzulegen. Als Börsenmakler
hatte er zunächst eine sehr eng definierte Vorstellung von Besitz entwickelt. Dieser
erschien ihm als eine spezifisch menschliche Kategorie, nicht nur als ein
materieller, sondern auch als immaterieller, kultureller Wert, im Einzelfall das
Ergebnis harter, sich an den Bedürfnissen anderer orientierender Arbeit, irgend-
wann in seiner Summe auch Ausdruck oder Inbegriff eines erfolgreich bestandenen
Lebens. Arbeit allein, so glaubte er, führe zur Herstellung von Wert, den man
veräußern könne, ebenso wie man seine Dienste für Geld anbieten könne. Aus
der Tatsache, dass die Bemessung von wirtschaftlichem Wert Schwankungen
unterlag, zum Teil sogar sehr kurzfristigen Schwankungen, konnte man Gewinn
ziehen, indem man etwa Anteile an Firmen, die in der Gunst des Publikums
gesunken waren, kaufte und sie wieder verkaufte, wenn die Beurteilung dieser
Anteile sich gebessert hatte – aus welchen Gründen auch immer. Der dauernde
Umgang mit Werten, die man veräußerte oder erwarb, die ständige Vermehrung
von Besitz, die er für seine Kunden anstrebte und auch zu Wege brachte, der Zwang,
immer in den Kategorien von Wachstum, von Gewinn und Aneignung zu denken,
hatten ihm selbst zwar Wohlstand eingebracht. Andererseits aber hatten diese
Umstände in ihm auch Zweifel an der Zuverlässigkeit materieller Werte geweckt. Im
Laufe der Jahre hatten sie bei ihm sogar einen gewissen Überdruss gegen diese
Welt der materiellen Transaktionen erzeugt.
Und so hatte er zunehmend Vergnügen an der Beobachtung, dass er sein Eigentum
ganz ungefragt mit anderen teilen musste. Für die streunenden Katzen bildeten sein
Grundstück und die Gärten der Nachbarn ein Jagdrevier, das sie gegeneinander ab-
grenzten und verteidigten. Den Spechten und Finken waren Plätze in seinem Garten
oder an seinem Haus eigene wichtige Lebensorte, die sie regelmäßig aufsuchten.
Wahrscheinlich, so dachte sich Franklin, hatten alle diese Tiere keinen menschen-
ähnlichen Begriff von Eigentum. Wenn sie ihn aber dennoch hätten, und sei es auch
nur in Andeutung, dann müsste er – völlig losgelöst von seinem eigenen System
vertraglich gesicherter Rechte – existieren. Sein eigenes System wäre also von ganz
anderen Welten der Zuständigkeit und der territorialen Rechte überlagert. Wo Verträge
nichts gelten, regelt Verträglichkeit alles, dachte Franklin, während er einem Erd-
hörnchen zusah, das in Minutenabständen über die Granitblöcke huschte. Das Tier
durcheilte dieselbe kurze Strecke von nur wenigen Metern Länge immer wieder hin
und zurück mit großer Geschäftigkeit.
Franklin saß mit einer Zeitung im Liegestuhl und warf ab und zu einen Blick auf das
eilige Nagetier. Es war früher Nachmittag. Der Himmel spannte sich in sanfter
sommerlicher Bläue. Nur gelegentlich trug eine kleine Brise den Geruch von
trockenem Gras und von Blüten zu ihm, der in der Stille ein wenig müde geworden
war. Die Spechte flogen zu ihrem Baum, um ihre zeternden Jungvögel zu füttern
und schossen, wenn sie ihnen eilig die Schnäbel gestopft hatten, wieder davon, um
neue Nahrung zu suchen. Im Gebüsch plauderte eine Spottdrossel, das Erd-
hörnchen rannte noch immer hin und her, und die Libellen standen sekundenlang
über der Fläche des Teiches, um dann in irgendeine Richtung davon zu schießen.
Franklin hatte seine Zeitung beiseite gelegt und nickte immer wieder für Augenblicke
ein. So bemerkte er den Schatten nicht, der sich mehrere Male schnell über seinen
Ruheplatz hinweg bewegte. Hellwach aber wurde er plötzlich von einem kratzenden
und heftig flatternden Geräusch. Ein Bussard war auf einen der Granitblöcke herab-
gestoßen, nur fünf Meter von seinem Liegestuhl entfernt, und hielt das Erdhörnchen
in seinen Krallen. Es zappelte noch, und einen Augenblick lang schien es, als wolle
sich der Raubvogel mit seiner noch lebenden Beute einfach in die Luft schwingen.
Doch dann sträubte er seine Halsfedern und ließ den halb geöffneten Schnabel
einmal auf den kleinen Schädel des Nagetiers fallen. Das Erdhörnchen zuckte nicht
mehr. Schlaff hing es in den Krallen des Bussards. Sein Kopf war durch eine
klaffende Wunde, durch die einige Tropfen hellrotes Blut traten, fast vom Rumpf getrennt.
Einen Moment lang saßen sich Franklin und der Bussard gegenüber und starrten
sich an. Franklin sah das gesträubte, am Hals lebhaft gesprenkelte Gefieder, die
braune Fleckung der Brustfedern. Er sah sogar die schwarzen runden Pupillen in der
dunkel umrandeten grün-braunen Iris des Vogels. Dann aber erklang wieder das heftig
flatternde Geräusch, und der Bussard erhob sich mit seiner schlaff herabhängenden
Beute und flog schnell und flach über die Brombeerhecken im Süden. Erst als er etwa
vierzig Meter Höhe gewonnen hatte, beschrieb er eine sanft geschwungene Kurve nach
links und verschwand über den Wipfeln der Kiefern und Eichen des Naturreservats.
Dort muss er seinen Horst haben, dachte Franklin. Er war nun nicht mehr müde. Der
Zwischenfall hatte ihn nur kurz erschreckt, aber eine leise Spannung war zurückge-
blieben.
Die Spechte flogen immer noch hin und her, die Libellen schossen wieder durch die
Mittagshitze, die Spottdrossel plauderte von neuem. Nur ein paar rote Tropfen, die
schnell eintrockneten, erinnerten noch an das Erdhörnchen. „Auf Verträge ist wohl
doch mehr Verlass als auf Verträglichkeit“, murmelte Franklin vor sich hin. Dann
klappte er seinen Liegestuhl zusammen, rollte seine Zeitung ein und ging nachdenk-
lich den kleinen Pfad zurück zu seinem Haus. Er hielt den Kopf gesenkt, als suche
er etwas und hob den Blick erst wieder, als er um eine Gruppe von Tannen gebogen
war, die den Blick auf sein Haus von Süden her verstellten. Über eine große
Rasenfläche sah er die Südfront des Hauses mit den Blumenbeeten vor sich liegen.
Er ging auf einen Seiteneingang zu. Als er nur noch zehn Meter von der Haustür
entfernt war, bemerkte er links von sich einen Mann in Blue Jeans und mit einem
T-Shirt bekleidet, der sich für seinen Rasen zu interessieren schien.
Habe ich denn den Gärtner für heute bestellt? ging es Franklin durch den Kopf, als
er den Türknopf aufdrehte. Dann, bei schon geöffneter Tür, wandte er sich zurück,
um den Mann zu fragen, ob er für heute bestellt sei. Der aber stand bereits neben
ihm und tat so, als wolle er ihm die Tür aufhalten. Er antwortete nicht auf Franklins
Frage aber sein Gesicht schien auszudrücken, dass es hier auch keine Fragen
mehr zu beantworten gebe.
Und dann sah Franklin plötzlich einen zweiten Mann vor sich, der von der anderen
Gartenseite gekommen sein musste. Er war größer und stärker gebaut als der
erste und hatte ein dunkles Gesicht, in dem man einzelne Züge gegen die Sonne
schwer erkennen konnte. Nur seine Augen waren bemerkenswert: Sie hatten die
gleiche grün-braune Farbe wie die Iris des Bussards.
Plötzlich legte der vermeintliche Gärtner Franklin seinen rechten Arm um den Hals.
Franklin wollte sich befreien, aber jetzt sprang der Dunkelgesichtige auf ihn zu.
Durch einen Schwall von jäh in ihm aufsteigender Panik sah Franklin ein langes
Messer dicht vor seinem Gesicht, dann spürte er einen heißen, quellenden Schmerz
am Hals, seine Knie wurden zu Watte, und er stürzte in einen Abgrund von Übelkeit.
Dann wusste er nichts mehr
Am nächsten Tag berichteten die Lokalblätter von Ardsley in großer Aufmachung
von dem Raubmord an Franklin Lakes, einem der angesehensten Bürger der Stadt.
Nach Aussagen der Polizei mussten zwei Täter den ahnungslosen Börsenmakler
angegriffen und getötet haben, als er nach einem Aufenthalt in seinem Garten eben
im Begriff gewesen war, in sein Haus zurückzukehren. Die Verbrecher hätten das
Haus durchsucht und Bargeld sowie einige kleine Wertgegenstände entwendet. Die
überstürzt von einer Reise zurückgekehrte Ehefrau des Ermordeten gab an, dass die
durch den Einbruch erlittenen materiellen Einbußen relativ unerheblich gewesen
seien. In einem Zeitungsbericht wurde daraufhin die Möglichkeit erörtert, dass Franklin
Lakes das Opfer einer Verwechslung geworden sei und dass der Anschlag, bei dem
er getötet wurde, gar nicht ihm und seinem Wohnsitz, sondern einem der ähnlich
gelegenen Nachbarhäuser gegolten habe, in dem die Einbrecher vielleicht eine
besondere Beute vermutet hätten.
Monate später, als einer der Täter bei einem weiteren Einbruch in der Nähe von
Ardsley gefasst wurde, bestätigte sich dieser Verdacht. Die Mörder hätten, so lautete
der Bericht eines Blattes, im Auftrag einer internationalen Hehlerbande gehandelt.
Der damals von ihnen gesuchte und fälschlicherweise im Hause von Franklin Lakes
vermutete Kunstgegenstand sei eine überaus wertvolle persische Goldschmiedearbeit
aus dem 10. Jahrhundert gewesen: ein aus Gold gearbeitetes Becken von etwa 50 cm
Durchmesser, das außen und innen mit kunstvoll ausgeführten prä-islamischen
Figuren aus der Buyidh-Dynastie versehen sei. Charakteristisch für dieses äußerst
seltene Stück sei das auf dem Grunde des Beckens angebrachte reliefartige Bild
eines großen Raubvogels, vermutlich eines Bussards, der eine geschlagene Beute
in seinen Fängen hält. Ein solches altpersisches Goldbecken, so die Zeitungs-
meldung, habe sich bis vor wenigen Monaten tatsächlich in einem Nachbarhaus von
Franklin Lakes befunden. Aus Sicherheitsgründen habe man den kostbaren Gegenstand
bald nach dem Mord in ein Museum überführt. Dort könne er nun von Interessierten
in Augenschein genommen werden.

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